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Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen

Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen

Titel: Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
Autoren: Alexandra Marinina
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und geizig mit Zärtlichkeiten, aber arbeitsam und sehr gütig. Sie war gut zu den Kindern und besorgte den Haushalt, und mehr wurde von ihr auch nicht verlangt.
    Eines Tages sprach ein etwa siebzehnjähriger Junge die sechsjährige Alina auf der Straße an. Er war groß, krankhaft mager, auf seinen eingefallenen Wangen prangten ekelhafte, leuchtend rote Pickel, die ein großes braunes Muttermal umrahmten. Der Junge hielt Alina ein Bonbon in glänzendem Goldpapier hin und hockte sich vor ihr nieder. Das Mädchen näherte sich vertrauensvoll, der Junge nahm ihre Hand und sagte alle möglichen Dinge. Alina verstand damals kaum etwas, er benutzte viele Wörter, deren Bedeutung sie nicht kannte, aber sie begriff, dass er ihr das Höschen ausziehen und irgendetwas mit ihrem langen, dichten kastanienbraunen Haar machen wollte. Die Wörter selbst machten ihr keine Angst, aber die Augen des Jungen . . . Sie waren Furcht einflößend, genau wie seine vibrierende Stimme, und auch seine Hand, die ihre kleine Hand fest umklammerte und irgendwie klebrig war. Plötzlich stockte der Junge, kniff für einen Moment die Augen zusammen, seufzte tief und ließ ihre Hand los.
    »Das darfst du niemandem erzählen«, sagte er und stand auf. »Sonst stech ich dir die Augen aus.«
    Alina bezweifelte keinen Augenblick, dass er seine Drohung wahr machen würde.
    Zwei Tage lang quälte sie sich, dann fragte sie ihren älteren Bruder Imant, der schon vierzehn war:
    »Imant, was ist Sperma?«
    Der Bruder wurde puterrot.
    »Sag dieses Wort nie wieder«, sagte er streng. »Das ist ein ganz schlimmes Wort, und wenn kleine Mädchen es benutzen, dann kriegen sie einen ekligen Ausschlag im Mund. Verstanden? Hast du das verstanden?«
    »Ja, Imant«, antwortete die kleine Alina artig. »Ich werde das Wort nie wieder sagen.«
    Aber das war leichter versprochen als getan. Es war das einzige unbekannte Wort, das sie sich von dem Gemurmel des Jungen gemerkt hatte, und schließlich siegte die Neugier. Einige Tage später fragte sie ihre Freundin im Kindergarten danach. Die wusste auch nicht, was Sperma war, versprach aber, sich bei ihren Eltern danach zu erkundigen. Am nächsten Tag kam die Freundin in den Kindergarten und verkündete streng:
    »Mit dir spiele ich nicht mehr. Meine Mama hat gesagt, du bist ein schlechtes, verdorbenes Mädchen, wenn du solche schmutzigen Wörter sagst, und ich darf dir nicht mehr zu nahe kommen, damit du mich nicht ansteckst mit deiner Verdorbenheit.«
    Am Abend wurde sie bereits von allen Kindern ihrer Gruppe gemieden. In der Nacht presste Alinas das Gesicht ins Kissen, weinte bitterlich und dachte verzweifelt: Na und, dann spielt ihr eben nicht mit mir. Ich werde nie mehr jemandem etwas von mir erzählen. Niemals. Niemandem. Nichts. Ich brauche niemanden. Und mich braucht auch niemand. Ich werde ganz allein sein . . . Ganz allein . . .
    Viele Jahre lang sollte es in ihrem Leben nur drei Männer und eine fremde, raue und wortkarge Frau geben. Alina würde sich daran gewöhnen, allein zu sein und mit niemandem über sich zu reden. Sie würde lernen, ohne Freundinnen auszukommen, ohne vertrauensvolle Gespräche, ohne die Möglichkeit, jemandem das Herz auszuschütten. Doch hätte ihr Bruder Imant sie damals gefragt, woher sie dieses für ein sechsjähriges Mädchen verbotene Wort kannte . . . Und hätte die Kindergärtnerin sich dafür interessiert, warum die Kinder auf einmal nicht mehr mit der kleinen Alina spielen wollten . . . Und wäre Waldis oder Inga Wasnis aufgefallen, dass Alina überhaupt keine Freundinnen hatte, dass niemand sie anrief, besuchte oder einlud . . . Doch Alina war gut in der Schule und nicht krank, bedurfte also keiner besonderen Aufmerksamkeit von Vater oder Stiefmutter. Hätte Imant ihr nicht mit dem Ausschlag im Mund Angst gemacht, hätten die Eltern ihrer Freundin nicht gesagt, sie sei ansteckend, wenn sie solche hässlichen Worte benutzte, hätte . . . wäre . . .
    Aber es war, wie es war. Und fortan war Alina Wasnis verurteilt zu Einsamkeit und ständiger, tief im Innern verborgener dumpfer, schmerzhafter Verzweiflung.

Zweites Kapitel
Kamenskaja
       
    Leonid Sergejewitsch Degtjar, Gründer und künstlerischer Leiter des Musikstudios beim Filmkonzern Sirius, hatte bereits von dem tragischen Ereignis gehört und reagierte darum lebhaft und bereitwillig auf Nastjas Bitte um ein Gespräch. Da ihn bereits seit einigen Tagen ein Hexenschuss, peinigte, bat er sie unter langen Entschuldigungen und
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