Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
nicht aber bis zu der Wohnung, in der er schließlich verschwand. Nachdem der General das Haus wieder verlassen und Kolja sich davon überzeugt hatte, dass er nach Hause gefahren war, machte er seelenruhig kehrt und fuhr zum Polizeirevier im Alexejewskij-Bezirk. Bereits nach anderthalb Stunden wusste er, wer in den vier Wohnungen der dritten Etage wohnte, und die Mädchen aus der Passabteilung versprachen, ihm Fotos der Mieter zu zeigen. In zwei der vier Wohnungen lebten alteingesessene Moskauer, in den anderen beiden Zugezogene, aber auch sie wohnten schon so lange hier, dass sie in dieser Zeit bereits mindestens einmal ihren Pass erneuert hatten.
Während Selujanow in dem warmen Büro saß, kämpfte er mannhaft gegen Schlaf, Hunger und das Bedürfnis nach einem Glas Wodka an. Und zwar in genau dieser Reihenfolge. Am meisten wollte er schlafen. Aber da er nicht schlafen durfte, wollte er wenigstens essen. Da es jedoch auch nichts zu essen gab, wünschte er sich etwas zu trinken, um alles hinunterzuspülen und zu vergessen, wie müde und hungrig er war. Am liebsten hätte er alles vergessen. Seine Kinder, die bei seiner geschiedenen Frau und ihrem neuen Ehemann in einer anderen Stadt lebten, und seine große leere Wohnung, in die er nicht zurückkehren wollte, weil dort nur Staub, Einsamkeit und Ödnis auf ihn warteten. Darum trank er. Am Anfang hatte er getrunken, um die Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern zu betäuben, dann hatte er getrunken, um nicht zu weinen vor Einsamkeit. Inzwischen trank er nur noch aus Gewohnheit. Aber er kannte sein Maß und hielt sich immer eisern daran. In der Arbeitszeit trank er nie einen Tropfen, erst abends, wenn er zu Hause war. Immer genau zweihundertfünfzig Gramm, aufgeteilt in drei Portionen.
»Kolja, schlafen Sie?«, fragte plötzlich eine zarte Stimme.
Er fuhr hoch und stellte erstaunt fest, dass er tatsächlich eingeschlafen war. Verwirrt blickte er auf die junge Frau, die mit einem Stoß Karteikarten vor ihm stand. Sie war mittelgroß und schlank, steckte in grauen Uniformhosen und einem hellblauen Hemd, den Gürtel fest um die schmale Taille gespannt. Die Schulterklappen wiesen sie als Leutnant aus. Ihre Figur war eine Augenweide, aber ihr Gesicht eine ausgesprochene Enttäuschung.
Er nahm die mit Fotos versehenen Karteikarten und erblickte sofort ein bekanntes Gesicht. Er hatte diesen Menschen noch nie gesehen, aber er kannte ihn. Langes gelocktes Haar, hohe Geheimratsecken, eine getönte Brille. Der Mann hieß Michail Dawydowitsch Larkin.
Kolja fühlte, wie eine schwere Last von ihm abfiel. Jetzt konnte er nach Hause gehen und schlafen. Endlich schlafen. Dann etwas essen. Und dann wieder schlafen. Nach der Personenbeschreibung war Larkin genau derjenige, der in den Fällen Jurzew und Basanow gesucht wurde. Jetzt konnte man ihn ganz offiziell beschatten lassen, es bedurfte keiner Schwindeleien und Versteckspiele mehr. Pawels Beobachtung war über Konowalows Leute sichergestellt. Für Larkins Beobachtung war ab sofort die Hauptverwaltung für Inneres zuständig. Und Minajew konnte man vergessen. Ihn brauchte man ab jetzt nicht mehr zu observieren.
Kolja blickte auf und sah die vor ihm stehende junge Frau mit müden Augen an.
»Wie heißen Sie?«, fragte er.
»Walja«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das genauso unschön war wie ihr ganzes Gesicht.
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
Sie schien über seine Frage nicht verwundert zu sein. Und das gefiel Selujanow.
»Haben Sie heute Zeit?«
»Wann? Abends?«, fragte Walja nach.
»Abends und nachts. Bis zum Morgen.«
Nikolaj war äußerst genau in seinen Angeboten. Nach seiner Meinung waren Anspielungen und Andeutungen eines Mannes nicht würdig.
»Ich habe Zeit bis morgen früh«, erwiderte Walja sehr ernst. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich mit mir einlassen sollten.«
»Warum?«
»Weil ich keine Gegenstände mag, die anderen Frauen gehören.«
Alles war vollkommen klar ausgedrückt und sollte heißen: Wenn du verheiratet bist und deine Frau gerade auf Dienstreise ist, brauchst du es bei mir gar nicht zu versuchen. Selujanow lächelte.
»In meiner Wohnung gibt es schon seit vier Jahren keinen einzigen Gegenstand mehr, der einer Frau gehört. Es gibt nur viel Platz, viele Bücher, Staub und Einsamkeit. Haben Sie einen Führerschein, Walja?«
»Natürlich. Ich glaube, ich habe das Autofahren schon vor dem Alphabet gelernt. Mein Vater ist Fahrlehrer.«
»Würden Sie mich nach Hause fahren?
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