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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
Autoren: Alexandra Marinina
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loszureißen, aber im selben Moment ertönte ganz in der Nähe das Geräusch einer Baumaschine.
    Der Teufel soll ihn holen, schoß es Igor durch den Kopf, und ohne nachzudenken drückte er auf den Abzug. Den Schuß hatte niemand gehört.
    Schnell durchsuchte er die Taschen des auf dem Boden liegenden Milizionärs und nahm den Zettel an sich. Er las, was auf dem vierfach gefalteten, karierten Blatt stand.
    »Mann im Alter von 35 bis 38, Größe ca. 180 cm, hellbrauner Regenmantel, hält die linke Hand in der Manteltasche.«
    Sie hatten also Artjoms Spur aufgenommen. Gut, daß der Zettel jetzt in Sicherheit war.
    Igor entnahm der Hosentasche des Milizionärs ein Taschentuch, wischte damit sorgfältig die Pistole ab und steckte sie mit dem Lauf nach vorn wieder in die Hand des Toten.
    4
    Suren Udunjan, von seinen Freunden einfach Surik genannt, öffnete weit seine ungewöhnlich schönen Augen, wodurch sein Gesicht den Ausdruck wahrhaft kindlicher Unschuld annahm.
    »Ich wollte ihn doch nicht umbringen«, sagte er im Tonfall eines gekränkten Kindes. »Vielleicht ist er überhaupt nicht tot, sondern hat nur das Bewußtsein verloren.«
    »Du hast selbst gesagt, daß er tot ist«, versetzte Artjom Resnikow unwirsch und strich mechanisch über den Verband an seiner linken Hand. Die mit kochendem Wasser verbrühte Hand tat immer noch weh, doch er versuchte, den Schmerz nicht zu beachten.
    »Es ist mir so vorgekommen«, entgegnete Surik ungerührt, während er die riesigen, mandelförmigen Augen noch weiter aufriß, die Spitzen seiner langen, dichten Wimpern berührten fast die schön geformten Augenbrauen.
    »Ich bin doch kein Arzt, ich kann mich getäuscht haben. Aber ich glaube, er hatte keinen Puls mehr.«
    »Du glaubst, du glaubst«, fuhr Artjom ihn an. »Was hast du denn mit ihm gemacht?«
    »Gar nichts. Alles war wie immer: Ich hab ihn mit einer Hand von hinten an der Gurgel gepackt, ihm die andere Hand in die Tasche geschoben und dann den Beinhebel angewendet. Die übliche Methode, alles still und geräuschlos. Aber der hat plötzlich so seltsam geröchelt und ist in sich zusammengesackt. Weiß der Teufel.«
    Surik senkte langsam die Lider, blendete gleichsam das weiche, strahlende Licht seiner Augen aus, das seinem Gesicht Reinheit und Unschuld verlieh. Die Lippen preßten sich fest aufeinander, die Konturen der Mundwinkel traten schärfer hervor. Jetzt saß vor Artjom ein zynischer, eiskalter Mörder.
    »Hast du ihm etwas abgenommen?«
    »Warum hätte ich das tun sollen?« erwiderte Surik mit gesenkten Lidern. »Es war eine gute Stelle, still, dunkel, keine Menschenseele weit und breit. Ich habe die Papiere schnell abgelichtet und wieder in seine Tasche gesteckt.«
    »Hast du Spuren hinterlassen?«
    »Wo denkst du hin?!« Die Wimpern hoben sich wieder, die strahlend hellen Augen blickten Artjom gekränkt an.
    »Lassen wir’s gut sein. Was steht denn Schönes in den Papieren?«
    »Berkowitsch, Stanislaw Nikolajewitsch, 1957 in Moskau geboren, ledig, Versuchsleiter in irgendeinem schlauen Konstruktionsbüro. Weiß der Teufel, wer er ist.«
    »Du Esel«, preßte Artjom wütend zwischen den Zähnen hervor. »Hast du es dir nicht gemerkt?«
    »Warum hätte ich das tun sollen?« erwiderte Surik mit seinem Lieblingssatz und zuckte ungerührt mit den Schultern. »Ich hab dir die Aufnahmen mitgebracht. Sieh selbst nach.«
    »Gib her«, Artjom streckte die Hand aus.
    »Sofort, ich laufe, ich falle auf die Knie.«
    »Was willst du?«
    »Ich will, daß du dich bei mir entschuldigst, Artjom-Khan«, flötete Surik mit gedehnter, widerlich öliger Stimme, seinen armenischen Akzent absichtlich überspitzend.
    »Wofür?« fragte Artjom verwundert.
    »Für den Esel, Artjom-Khan, für den Esel. Du bezahlst mich für meine Arbeit und nicht dafür, daß du mich beleidigen darfst. Beleidigungen müssen nach Sondertarif bezahlt werden.«
    Suriks Wimpern senkten sich, und Artjom sah wieder das erschreckend eiskalte Mördergesicht vor sich.
    Igor Jerochin saß rechts von Surik, kaute auf seinem Schaschlik herum und beobachtete die beiden. Man sieht gleich, daß Artjom einer von der besseren Sorte ist, dachte er, hat nie ein Lager gesehen, keine Pritsche gerochen und hat keine Ahnung, was er da gesagt hat. Dabei hat Surik noch sehr zurückhaltend reagiert. Ein anderer an seiner Stelle wäre aufgesprungen und hätte den Tisch umgestoßen. Aber Surik sitzt da und lächelt.
    Igor begriff, daß es an der Zeit war, sich einzumischen. Artjom
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