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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
Autoren: Alexandra Marinina
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irgendwo abzugeben. Aber womöglich würde im nächsten Moment jemand kommen und den Wisch bei ihm abholen. Igor mußte sich beeilen. Aber was tun? Sollte er dem Milizionär vielleicht einen Herzanfall Vorspielen? Sich im Sturz an ihm festklammern und dann, im Gedränge, den Zettel aus seiner Tasche fischen? Nein, für diese Nummer war Igor nicht geeignet. Dazu gehörte Erfahrung, die Professionalität eines Taschendiebs, und die besaß Igor nicht. Er mußte sich etwas anderes einfallen lassen. Sollte er vielleicht versuchen, sich als der auszugeben, für den der Zettel bestimmt war? Nein, das war zu riskant, das konnte ins Auge gehen. Aber warum sollte er es nicht mit der einfachsten Methode probieren? Der Milizionär war ein noch ganz junges Bürschlein, mit rosigen Wangen, die so aussahen, als hätte er sich erst vor kurzem zum ersten Mal rasiert. Er war unerfahren und natürlich ein armer Schlucker. Mit seinem Gehalt als Polyp kam er nicht weit. Igor hatte etwa fünfhundert Dollar bei sich. So einer Summe würde dieser Milchbart nie und nimmer widerstehen können.
    Igor eilte auf die Straße hinaus und sah sich um. Direkt neben der Metrostation entdeckte er eine Baustelle, die mit einem Bretterzaun gesichert war. Das Tor war natürlich abgeschlossen, aber im Nu machte Igor einen Durchschlupf ausfindig. Jemand hatte ein Brett aus dem Zaun herausgerissen, die Lücke war groß genug, um hindurchzuschlüpfen. Jerochin ging zurück zur Metro und sprach den jungen Milizionär an.
    »Genosse Sergeant«, sagte er mit gespielter Aufregung, »dort auf der Baustelle versucht man, einen Menschen umzubringen. Und auf der Straße ist kein einziger Milizionär zu sehen! Kommen Sie, schnell.«
    Der Milizionär glaubte ihm sofort. Igor hatte nicht erwartet, daß es so einfach sein würde.
    »Wo denn?« Der Milizionär war vor dem Bauzaun stehengeblieben und blickte fragend auf das eiserne Tor mit dem eindrucksvollen Schloß davor.
    »Dort ist eine Lücke im Zaun, da können wir durchsteigen.«
    Igor zeigte mit der Hand nach rechts und zog den Milizionär am Ärmel mit sich.
    Der Milizionär stieg als erster durch die Lücke, und nachdem auch der breitschultrige Igor sich hindurchgezwängt hatte, sah der Uniformierte sich verwundert auf der leeren Baustelle um.
    »Hier ist niemand, Sie müssen sich geirrt haben.«
    Igor zückte wortlos seine Brieftasche und entnahm ihr fünf Hundert-Dollar-Scheine.
    »Hier, Sergeant, das ist für dich.«
    »Wofür?« fragte der Milizionär überrascht und sah sein Gegenüber mit einem Blick an, der plötzlich stechend geworden war.
    »Du hast einen Zettel in der Tasche. Gib ihn mir, und wir haben einander nie gesehen. Okay?«
    »Ich muß Sie bitten, mir Ihre Papiere zu zeigen«, sagte der Milizionär in strengem Tonfall.
    »Aber wozu denn, Sergeant?! Hier sind fünfhundert Dollar. Weißt du überhaupt, wieviel das ist? Soviel verdienst du nie wieder in fünf Minuten. Nie wird jemand etwas davon erfahren, und du hast zwei Millionen Rubel in der Tasche. Hier, nimm. Gib mir den Zettel, und wir sind quitt.«
    Igor begriff, daß die Sache den Bach hinunterging, aber noch gab er nicht auf. Er versuchte, den Grünschnabel unter Druck zu setzen, zu überrumpeln, ihm keine Zeit zum Nachdenken zu lassen, ihn mit der unerhörten Summe zu blenden. Er konnte nicht zulassen, daß ihm dieses läppische Bürschlein alles verdarb. Es ging schließlich um viel Geld, um zweimal zwanzig Riesen pro Monat. Und das war noch lange nicht alles. Igors Anteil an dem Geschäft war einer der geringsten, es gab Leute, die zweimal monatlich das Zehnfache bekamen. Und diese Leute würden ihm sein Versagen niemals verzeihen.
    »Kommen Sie, Genosse!« befahl der Milizionär. Er hielt plötzlich eine Pistole in der Hand.
    »Das wird dir noch leid tun«, erwiderte Igor mit ruhiger Stimme. Er drehte sich mit dem Rücken zu dem Uniformierten, streckte die Hand nach dem Brett aus, das, gehalten von Nägeln, am Zaun baumelte und bückte sich, als wolle er durch die Lücke schlüpfen.
    Das war einer der berühmten Tricks von Igor Jerochin. Es dauerte nur eine Sekunde, und die Pistole hatte den Besitzer gewechselt.
    »Zum letzten Mal. . . fünfhundert Dollar für den Fetzen in deiner Tasche«, sagte er mit drohender Stimme und preßte den Lauf der Pistole gegen die Uniformjacke des Milizionärs, genau an die Stelle, wo das Herz war. Das Bürschchen klebte jetzt am Bauzaun, mit Igors mächtiger Hand an der Gurgel. Es versuchte, sich
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