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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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Handflächen geschrieben, was wird aus ihnen, wenn sie außer mir keiner mehr braucht, wenn sie keiner beachtet – was soll damit werden? Zu wem werden die Geister kommen, wenn ich weg bin, verlieren sie dann vielleicht ihre Fähigkeit, in der Luft aufzutauchen, sich an ihr festzuhalten, wie sie das jetzt tun? Wie stark hängen sie von uns ab, wie stark hängen sie mit uns zusammen? Vielleicht ist es umgekehrt, vielleicht bin ich es, der den Geistern nachjagt, der ihre tägliche Anwesenheit in seinem Leben braucht, sie kommen problemlos ohne mich aus, haben mich längst überlebt wie eine kurze Episode und erinnern sich gar nicht mehr an mich, und wenn sie bisweilen vor meinem Fenster entlangfliegen, geschieht das rein zufällig, ohne mich überhaupt wahrzunehmen. Kann schon sein.
    Am schlimmsten wäre es, wenn ich plötzlich all das vergäße, das ist so ziemlich das einzige, wovor ich mich wirklich fürchte – zu vergessen, alles zu verlieren, was sich auf diese seltsame und unerwartete Weise ereignet hat, die Erinnerung zu verlieren, alles zu verlieren. Das, was im umliegenden Raum aufgelesen wird, woraus sorgfältig und geduldig die Bilder zusammengesetzt werden, ist nur für dich verständlich; wohin du ständig zurückkehrst und womit du versuchst, klarzukommen – all das liegt auf merkwürdige Weise ganz nah, fast an der Oberfläche, man braucht diese Oberfläche nur zu durchstoßen wie eine Konservendose, und siehe da: hier ist es – dein und mein Leben, dein und mein Blut, ein kurzer Luftzug folgt dir, und dieser Luftzug, diese Bewegung reicht vollkommen aus, um zu fühlen und zu verstehen, wie du aufgewachsen bist, wie du dich in das Leben verbissen hast, wie du es mit deinem Körper durchschlagen, dich auf Hügel gerettet hast und in schwarze Gruben gefallen bist, wie du im tiefen Schnee versunken und ins schwarze Augustwasser getaucht bist, an dem Luftzug, den du bei deinem Gang durch die Zeit erzeugt hast, kann man ablesen, wie sehr du das Leben geliebt hast und wie sehr dir deine Liebe da fehlt, wohin du anschließend verschwunden bist.
     
    Ich schreibe dieses Buch im Mai zu Ende, während ich in meinem Zimmer im zweiten Stock sitze, ich sitze hier schon den vierten Monat, dieses Zimmer hat viel gesehen, ein paar Leichen wurden in dieser Zeit hinausgetragen, und die Tatsache, daß sie, diese Leichen, dann halbwegs wieder lebendig wurden und ins Leben zurückkehrten, spricht nicht für sie, sondern für das Leben. Ich sitze hier und beobachte, wie die Zeit an mir vorbeizieht. Sie versucht, das leise und unbemerkt zu tun, im großen und ganzen gelingt ihr das auch, es ist wirklich schwierig, sie zu beobachten, sie hat Übung und Ausdauer, im Unterschied zu mir kann sie warten und wird nicht müde von dem endlosen Zehren und Ziehen, und nur manchmal, wenn sie eine plötzliche und unvorsichtige Bewegung macht, reißt eine salzige Welle einen weiteren Zeugen fort, mit dem ich an ein und demselben Ufer gestanden habe.
    Vor einigen Monaten starb ein Freund von mir, ein alter Dichter, ein fröhlicher Emigrant, der sein ganzes Leben lang sorglos durch die Welt zog, sich niederließ, wo es ihm gefiel, sich keinen Kopf um irgendwelche Unannehmlichkeiten machte, die die Welt ihm bereitete, und sich von allem die besten und saftigsten Happen herauspickte – Dichtung und Alkohol –, während er ein normales Leben, die Eingebundenheit in eine allgemeine Routine imitierte, sich in fremder und unverständlichem Umgebung durchaus wohlfühlte, im großen und ganzen aber doch auf Dichtung und Alkohol beschränkt blieb. Warum habe ich seine Abwesenheit in diesen zwei Monaten nicht gespürt, ich habe wirklich kein einziges Mal an ihn gedacht. Andererseits, was hätte das geändert? Er stand am selben Ufer wie ich, stand genauso wie ich im Dunkeln und blickte in die blaue Abwesenheit eines Bildes, und sein plötzliches Verschwinden betrifft wahrscheinlich keinen, er hatte seine Beziehungen zur Leere, ich habe meine. Darauf gründet sich das Prinzip der menschlichen Brüderlichkeit – alles, was du kannst, ist einfach, jemanden durch deine Anwesenheit zu unterstützen, alles Weitere hängt nicht von dir ab, aber auch du bist von allem anderen nicht abhängig. Gib gut auf die Wellen acht – eine davon ist für dich.
     
    Wir sitzen auf dem Kennedy-Airport, und er sagt, daß sie mit ihrem Sohn, ich hau jetzt hier ab, nach New Jersey fliegen, zu irgendeiner Kommune, nach seinen Worten ist das eigentlich gar keine
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