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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR
Autoren: Serhij Zhadan
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jedem von ihnen im Traum ein Himmelsbuddha herabgestiegen, hat sich über das vollgesabberte Kopfkissen gebeugt und ihnen etwas eingeflüstert, vielleicht ist ihnen im Straßengewühl oder in der Parkdämmerung seine plumpe Jungengestalt erschienen, vielleicht haben sie ihn wirklich an irgendwelchen unscheinbaren Bewegungen oder an seiner Stimme erkannt, denn etwas mußte sie herausgerissen haben aus diesem endlosen, aufdringlichen Treiben, in dem sie sich langsam und erbarmungslos auf den Tod zu bewegten – einen schrecklichen, alltäglichen Tod, der keine Chance und keine Bedenkzeit läßt, etwas hat sie dazu gebracht, den Versuch zu wagen, die Straße an einer verbotenen Stelle zu überqueren, aber das ist vielleicht nicht die Hauptsache – jemand hat ihnen beigebracht, daß es keine verbotenen Stellen gibt, zumindest nicht auf dieser Straße.
    George Harrison, dem viele geglaubt haben und der keinen verraten, keinen preisgegeben hat, Harrison hat hingebungsvoll Hymnen und Mantras gesungen, Gesänge für Frieden und Ökumene zelebriert, er kannte die verschiedensten Scharlatane, hat alle religiösen Gemeinschaften zu Hirngespinsten erklärt, kein Grund also, die Flatter zu kriegen, liebe deinen Nächsten, liebe deinen Buddha und mach es den anderen nicht schwer, ihren zu lieben, aber ob seine Worte reichen, um anzuhalten und diese Straße wirklich an einer verbotenen Stelle zu überqueren? Da habe ich meine Zweifel. Harrison ist natürlich ein cooler Typ, und das mit dem Buddha hat er schon ganz richtig verstanden, aber ich persönlich würde nicht allzu viel auf dieses ganze pazifistische Tralala geben, die Kunst hat nicht die Kraft, deine Biographie zu ändern, deine Biographie ändern Arme, die weitaus rücksichtsloser und geübter sind. Vielleicht sind das sogar die Arme von Buddha selbst.
    Der Himmelsbuddha, ein lang gedienter Pionier, der schon ein gutes Dutzend Jahre lang in dem heruntergekommenen Pionierlager bei Charkiw lebt, in dem leeren Funkraum auf Pappkartons übernachtet, einmal pro Woche in die Stadt fährt und sich von Halbfertigprodukten aus dem Supermarkt ernährt, ein ewig junger Scout mit kahl geschorenem Schädel, der nachts unter dein Fenster tritt, sich Freunde und Jünger sucht und nachts zu ihnen flüstert – es gibt niemanden außer dir, es gibt keine Konventionen, keine Moral, nur dich und dein Gewissen, nur dich und dein Herz, das so schlägt, wie du ihm befiehlst, es gibt kein Sozium, es gibt kein Regime, keine Komitees und keine Presse, keine Herrschaft und keine Anarchie, keine Hindernisse und kein Ziel – nur dein Gewissen, nur deinen Penis und dein Herz, nur deinen rasierten Schädel und deine Stimme, mit der du alles sagen kannst, was du willst, was du für nötig hältst. Was zerfetzt Hunderte und Tausende Vertreter unserer gemeinsamen Gesellschaft, was macht sie so anders, anders als dich und mich? Sie sind sich selbst nicht bewußt, wie greifbar und nah die Grenze ist, an der das Leben in den Tod übergeht, denn wenn es nur um Buddhismus oder um das geistliche Leben der Gemeinde ginge, würden sie ums Verrecken nicht so lange ausharren in ihrem leeren Pionierlager, mit Tee und Nudeln, sie würden ums Verrecken nicht durchhalten auf den gegnerischen Straßen mit ihren bekloppten Trommeln und öden Gebeten. Es geht um das Feuer, das in ihren kahlen Schädeln lodert, genau so wie in den Schädeln und Lungen Tausender, Zehntausender anderer Verrückter in dieser Gesellschaft – Looser, Outsider, Bankrotteure, Pechvögel, Mitglieder religiöser Sekten und radikaler Parteien, Voodoo-Anhänger und Verehrer fernöstlicher Rituale, die fasziniert sind von den Ideen des Faschismus und Revanchismus, Groupies und aggressive Computerfreaks, Rechte, chronisch Kranke, sozial Unangepaßte, national Unbewußte, moralisch Schwache, auf ewig Verdammte.
    Es geht nicht um Glauben und nicht um Religion, es hat nichts mit ihrer sozialen Position oder ihrer psychischen Instabilität zu tun. Es geht um ein Leben, in dem es lauter solche Figuren gibt, es geht um die Fähigkeit, sie zu erkennen, zu verstehen und zu unterstützen und ihre unmittelbare Überlegenheit in solchen Fragen wie Ehrlichkeit, Hingabe, Unbestechlichkeit anzuerkennen. Versuch dich an alles zu erinnern, was in deinem Leben gewesen ist, an alle, die dir über den Weg gelaufen sind, versuch alle Gespräche und Schilderungen, die Namen aller Städte und Automarken, die Melodien aller Radiosender und die Sequenzen aller Filme zu
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