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An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)

An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)

Titel: An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Antje Ippensen
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    Oi glaubte fest daran, dass nun das Mädchen weglaufen würde. Er glaubte so fest daran, dass er reglos liegenblieb und den Schmerz der Verlassenheit auf seiner Zunge kostete … bitter war er und scharf … bis er die Präsenz ihrer Gestalt auf einmal dicht neben sich spürte. Als nächstes hörte er das Zischen ihres Gasfeuerzeugs, und dann erklang ihre Stimme ganz nah.
    „Hey man, du bist’n Skinhead, was? – Aber ohne Tattoo.“ Oi fühlte die Wärme der kleinen Flamme, als das Mädchen offenbar seinen Schädel beleuchtete.
    „Tattoo?“, fragte er nach einer Weile verständnislos.
    „Na clear. Du hast keins. Wo ist das Hakenkreuz auf deiner Glatze?“ Dann lachte sie. „Wummm – es hat dich ganz schön hingehauen, was? Wer bist du?“
    Dieses Mal gelang es dem Hünen, vergleichsweise schnell zu antworten. „Jammo Oi und ich bin blind.“
    Den zweiten Teil seiner Antwort schien sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie schlug klatschend die Hände zusammen und meinte: „O-i! Was fürn fucking name ist denn das? Das ist gar kein näjm, sind nur zwei Vocals. So nenne ich dich besser: Two Vocals.“
    Zwei schmale, knochige Hände griffen nach seinen Schultern, als wollte sie ihm aufhelfen, was natürlich angesichts seines Zweieinhalb-Zentner Gewichts und ihrer Magerkeit vollkommen absurd war. Oi stemmte beide Handflächen auf die Erde und wuchtete sich erst einmal auf die Knie hoch. Vor seiner Nase entstand ein Luftzug – seine neue Freundin wedelte mit einer Hand vor seinen Augen herum. „Blind, was? Schöner shit. Kannst überhaupt nix viewen? Und das Ding da?“ Sie zog an dem Comp-Halsband.“
    „Kaputt.“
    „Schöner shit“, sagte sie wieder. „Komm, stütz dich auf mich.“
    Das wollte er ihr auf keinen Fall antun; er war nicht verletzt, er kam alleine auf die Füße, aber um sie nicht zu kränken, berührte er sie kurz mit beiden Händen an den Schultern. Und erkannte dabei entsetzt, dass dieses Kind nur aus Haut und Knochen bestand. Es war halbverhungert.
    Zart und scheu nahm er ihr schmales Gesicht in die Hände und zeichnete es nach, um es sich einzuprägen, denn er war schon mehrmals in seinem Leben ohne seine Augenprothese gewesen und erinnerte sich, wie man sich dann Gesichter merkte. – Ihr Gesicht war trocken; nur eine feine Salzspur lief über die rechte Wange. Kleine Stupsnase, riesige Augen. Ihr Haar war kurz, störrisch und wuschelig.
    „Du bist zu dünn“, sagte er unwillkürlich; er hatte keine Ahnung, wie er das taktvoller hätte ausdrücken sollen.
    „Oh no, Sir!“, rief sie da, und er konnte fast hören, dass sie dabei düster grinste. „Da solltest du viewen die anderen meiner Horde. Die sind alle noch viel dünner. Deshalb bin ich ja gechost worden. Du weißt schon: Go to the city! Capito?“
    Oi schüttelte den Kopf und schämte sich, weil er so schwerfällig und dumm war – aber sie schien sich gar nicht daran zu stören. Horde?, überlegte er. Diesen Ausdruck habe ich schon einmal irgendwo gehört.
    „Jammo Bonea, by the way“, sagte sie beiläufig. „Komm into the light, dann maybe ich kann deinen Comp heilmachen.“ Und sie packte ihn am Ärmel und zog ihn mit sich in die Straße, unter einen Rundbogen. Das vermutete er jedenfalls; er war stockblind, aber etwas Hoffnung flackerte in ihm auf. Vielleicht kannte sich Bonea ja wirklich mit Geräten aus. Sie probierte und schraubte eine Weile ganz fachmännisch an seinem Halsband herum, während er vor ihr kniete – aber dann seufzte sie und gab auf. „Nix genug capito von this stuff“, sagte sie. Er fühlte, dass sie ihn forschend anstarrte.
    „Wir müssen to the city. Lass uns run way von diesem Friedhof. Shit, nicht einen winzigen Rest Abfall ist to found here, verdammt! Was in hell IST das hier nur?“
    „Die T-Zone wird komplett und wunderbar saniert“, murmelte Oi automatisch, weil einem dieser Werbespruch ständig um die Ohren gehauen wurde. „Hast du großen Hunger, Bonea?“
    „Hast du viele Chips?“, fragte sie dagegen.
    Langsam bewegte er seinen mächtigen kahlen Schädel von einer Seite zur anderen und stand wieder auf.
    „Habe heute Job verloren und nur das hier.“ Und er förderte seinen letzten, seinen einzigen Kupferchip aus einer Tasche seines Overalls. Es tat ihm bitter leid. Er vergaß seine eigene missliche Lage, als er sich vorstellte, dass dieses verhungerte Mädchen ganz allein durch die verlassene T-Zone geirrt war, auf der Suche nach essbarem Müll. Wegen der Seuchengefahr
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