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Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Titel: Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
Autoren: Stefan Zweig
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sein und zugleich ein wilder Aufschneider und Übertreiber? Ist es nicht möglich, ein guter Kartenzeichner zu sein und gleichzeitig ein neidischer Charakter, ja gilt Fabelei nicht seit Jahrhunderten als ein Seemannslaster und Mißgunst für nachbarliche Leistung geradezu als eine Fachkrankheit der Gelehrten? Somit brächten alle diese Dokumente Vespucci keinen Beistand gegen dieentscheidende Beschuldigung, dem großen Admiral Amerikas Entdeckung heimtückisch wegeskamotiert zu haben.
    Aber da erhebt sich eine Stimme aus dem Grab, um für Vespuccis Rechtschaffenheit zu sprechen. Und gerade derjenige tritt als Zeuge in dem großen Prozeß Columbus versus Vespucci an Vespuccis Seite, den man am wenigsten als seinen Eidhelfer erwartet hätte: Christophoro Colombo selbst. Ganz kurz vor seinem Tode, am 5. Februar 1505 – also zu einer Zeit, da der › Mundus Novus ‹ längst in Spanien bekannt sein mußte –, richtet der Admiral, nachdem er schon in einem früheren Schreiben Vespucci als seinen Freund gerühmt, an seinen Sohn Diego den folgenden Brief:
    »5. Februar 1505.
    Mein lieber Sohn,
    Diego Méndez ist am Montag, den 3. dieses Monats von hier abgereist. Seit seiner Abreise habe ich mit Amerigo Vespuchy gesprochen, welcher sich an den Hof begibt, wohin er berufen worden ist, um wegen einiger auf die Seefahrt bezüglicher Gegenstände zu Rate gezogen zu werden. Er hat stets den Wunsch bezeugt, mir angenehm zu sein (él siempre tuvo deseo de me hacer placer), es ist ein rechtschaffener Mann (mucho hombre de bien). Das Glück ist ihm unfreundlich gewesen wie vielen anderen. Seine Mühen haben ihm nicht den Vorteil gebracht, den er mit Recht erwarten konnte. Er geht dorthin (an den Hof) mit dem lebhaften Wunsch, für mich bei gebotener Gelegenheit (si a sus manos está) etwas Günstiges (que redondea mi bien) zu erwirken. Ich weiß von hier aus nicht, ihm genauer anzugeben, worin er uns von Nutzen sein könnte, weil ich nicht weiß, was man von ihm will. Aber er ist entschlossen, zu meinen Gunsten alles zu tun, was ihm zu tun möglich ist.«
     
    Dieser Brief ist eine der überraschendsten Szenen in unserer Komödie der Irrungen. Die beiden Männer, die sich der Unverstand dreier Jahrhunderte immer nur als erbitterte Rivalen vorgestellt, die mit verbissenen Zähnen um den Ruhm kämpften, das neue Land nach sich benannt zu wissen, waren in Wirklichkeit herzliche Freunde! Columbus, dessen mißtrauischer Charakter ihn mit fast allen Zeitgenossen in Konflikt brachte, rühmt Vespucci als langjährigen Helfer und macht ihn zu seinem Anwalt bei Hofe! Sie haben also beide – dies zweifellos der historische Sachverhalt – nicht die leiseste Ahnung gehabt, daß zehn Generationen von Gelehrten und Geographen ihre Schatten gegeneinander hetzen würden in einem Kampf um den Schatten eines Namens. Daß sie Gegenspieler sein sollten in einer Komödie der Irrungen, der eine als der lautere Genius, der von dem andern, dem tückischen Schurken, bestohlen wird. Selbstverständlich kannten sie beide das Wort »Amerika« nicht, um das dieser Streit aufgezäumt werden sollte, weder Columbus ahnte, daß seine Inseln, noch Vespucci, daß die Küste Brasiliens diesen gewaltigen Kontinent hinter sich barg. Männer von gleichem Metier, beide vom Glück nicht verwöhnt,beide ihres unermeßlichen Ruhms nicht bewußt, verstanden sie einander besser als die meisten ihrer Biographen, die in unpsychologischer Weise ihnen eine damals völlig unmögliche Bewußtheit ihrer Leistung unterschoben: wieder einmal wie so oft zerschlägt hier die Wirklichkeit eine Legende.
     
    Die Dokumente haben zu sprechen begonnen. Aber gerade mit ihrer Auffindung und Ausdeutung lodert die große Diskussion um Vespucci nur noch heftiger auf, nie sind zweiunddreißig Seiten Text mit solcher Akribie psychologisch, geographisch, kartographisch, historisch, drucktechnisch auf ihre Glaubwürdigkeit durchackert worden wie die Reiseberichte Vespuccis. Aber das Resultat ist, daß die streitenden Geographen ihr Ja und Nein, Schwarz und Weiß, Entdecker oder Betrüger jeweils mit gleicher Sicherheit und mit angeblich gleich untrüglichen Beweisen verfechten. Ich stelle hier nur flüchtig zur Erheiterung zusammen, was die verschiedenen Autoritäten in dem letzten Jahrhundert in ihren Thesen über Vespucci behaupteten: Er hat die erste Reise mit Pinzón gemacht. Er hat die erste Reise mit Lepe gemacht. Er ist auf seiner ersten Reise mit einer unbekannten Expedition gesegelt. Er
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