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Am Tor Zur Hoelle

Am Tor Zur Hoelle

Titel: Am Tor Zur Hoelle
Autoren: Claude Anshin Thomas
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Anzahl von Leichen. Tote amerikanische Jungen und tote vietnamesische Jungen. Ich sah und hörte und spürte die Verwundeten. Ich sah, wie einer unserer Hubschrauber unter dem Bauch eines anderen Hubschraubers davongetragen wurde. Der nicht mehr flugfähige Hubschrauber wurde auf einem provisorischen Landeplatz im Dschungel abgesetzt, und ein Tankwagen voll Wasser erschien aus dem Nichts, und aus dem kletterten Leute und spritzten die Hubschrauberkabine aus, denn sie war voller Blut, war geradezu blutrot ausgemalt. Während sich diese Szenen um mich herum abspielten, hoben wir erneut ab und flogen in die nächtliche Schlacht. An diesem ersten Tag wurde ich abgeschossen, und der Hubschrauber war außer Gefecht gesetzt. Wie es im Jargon der Vietnamkämpfer heißt: »Ich verlor meine Kirsche.« Das war meine Einführung in Vietnam. Die nächsten elf Monate verbrachte ich in einem Zustand andauernder Angst und einem fortwährenden Überlebenskampf. Ich war als Infanterist ausgebildet worden, hatte den Umgang mit Handfeuerwaffen und schwerem Geschütz gelernt und eine Grundausbildung in Erster Hilfe erfahren. Aber all das hatte mich nicht auf das vorbereitet, was ich hier vorfand, also reagierte ich, indem ich auf meine Kindheitserfahrungen zurückgriff – ich spielte. Ich spielte Cowboy und Indianer, ich spielte Krieg. Ich spielte ziemlich gut.
    Es gab einen Toten und zwei Verwundete. Ich versuchte einfach nur, mich ruhig zu verhalten. Ich hatte entsetzliche Angst, doch ihr durfte ich mich nicht überlassen. Ich wusste nicht, ob ich schießen oder mich ruhig verhalten sollte. Ich beschloss, mich ruhig zu verhalten, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Sobald du deine Position verraten hast, bist du verletzlich. Es war genauso wie beim Cowboy-und-Indianer-Spielen in den Wäldern, mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Kugeln echt waren und Menschen töten konnten.
    Die Kampfhandlungen verebbten, und schließlich wurden wir evakuiert. Sie hatten uns nicht früher rausholen können, weil die Gefechte zu heftig gewesen waren.
    Während der ganzen Zeit, die wir warten mussten, weinte ich nicht. Ich weinte nicht und ich betete nicht. Ich hörte später eine Menge Menschen, die voller Angst waren, die nach ihrer Mutter oder sonst jemandem riefen. Oder beteten. Aber ich war stolz auf mich. »Ich weine nicht, ich bete nicht. Denn worum sollte ich beten? Wenn es einen Gott gäbe, wie könnte dann das hier geschehen?« Ich betete nicht, ich wandte mich an nichts und niemanden um Hilfe. Ich war stolz auf mich. Heute weiß ich, dass der Drill, die Entmenschlichung, funktioniert hatte.
    Ich wurde ein wirklich guter Soldat. Ich war wirklich gut in Vietnam und bekam eine Menge Auszeichnungen und Orden. Ich war gut, sehr gut.
    Und ich genoss meinen Job! Nicht etwa so, wie man eine Wanderung in den Bergen genießen mag, doch ich genoss ihn in dem Sinne, dass ich mich nützlich fühlte, ich hatte dort eine Aufgabe. Das ergab Sinn für mich. Man stelle sich das vor: das Chaos des Krieges, der Irrsinn des Krieges – dort fühlte ich mich wohl. Das war mein Leben – dort fühlte ich mich am rechten Ort.
    Dieser Junge, siebzehn Jahre alt, zu Tode verängstigt … Fort! Fort! Fort! Zack – in jener ersten Nacht, in der wir abgeschossen wurden – fort! Der Junge hatte keinen Raum dort. Diese Art von Gefühlen hatte keinen Raum dort.
    Man kann nicht Gefühle haben und gleichzeitig in einer solchen Situation funktionieren. Und genauso war es bei mir zu Hause gewesen. Im Chaos war ich in meinem Element. So wuchs ich auf, also war es für mich völlig normal. Ich habe hart gearbeitet, sehr hart, um aus dieser Welt des Chaos’ herauszukommen. In Krisensituationen funktioniere ich immer noch sehr gut, aber es ist heute ganz anders. Ich muss meine Welt nicht länger nach diesem Vorbild formen, um zu funktionieren.
    In Vietnam war ich mir meiner Gefühle nicht bewusst. Der militärische Drill und das soziale und kulturelle Umfeld, in dem ich heranwuchs, hielten mich von meinen Gefühlen getrennt und ließen sie mir nicht bewusst werden. Ich habe nicht für die Demokratie oder irgendwelche Ideale gekämpft, als ich in Vietnam war. Dieser Mythos starb noch während der ersten Wochen. Danach blieb mir nur, der bestmögliche Soldat zu werden, damit ich mir und so vielen jungen Männern wie nur
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