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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Autoren: Harry Kemelman
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damals diese Stühle ausgewählt?»
    «Niemand. Der Architekt war berühmt – also ließ man ihm freie Hand … Es sollen Kopien alter englischer Kirchenstühle sein. Na ja – ihm konnte es ja egal sein; er muss schließlich nicht drauf sitzen. Hauptsache, es sah gut aus … Aber das mit den Synagogenplätzen ist eine merkwürdige Sache. In der Schul, in der mein Vater früher betete, da spielte es eine große Rolle, wo man saß. Traditionsgemäß saßen die angesehenen Männer immer in den vorderen Reihen – je näher an der Heiligen Lade, desto wichtiger waren sie. Es gab sogar eine Bankreihe an der Wand neben der Thora, auf der man mit dem Gesicht zur Gemeinde saß … Ich erinnere mich noch an die Männer, die dort ihren Platz hatten: alles bärtige Greise in langen wollenen Gebetsmänteln; mein Vater nannte sie die P’nai … Mein Gott, ich hab seit Jahren nicht mehr an das Wort gedacht – es bedeutet Gesichter. Mein Vater hat mir erklärt, dies wären die Gesichter der Gemeinde, die frömmsten und gelehrtesten Männer.»
    «Bei uns gibt’s nicht viele von der Sorte; höchstens der alte Goralsky und Wasserman.»
    «Meyer Paff hält sich auch für einen.»
    Die beiden Männer lachten.
    «Eins macht mir Sorgen», fuhr Gorfinkle fort. «Ich finde, wir sollten dieses neue Sozialprogramm der Gemeindeversammlung vorlegen. Wir haben es ja nicht einmal offiziell dem Vorstand unterbreitet.»
    «Ich bitte dich, Ben – mit diesem Programm haben wir uns zur Wahl gestellt damals; alle kennen es. Und dann haben sie uns gewählt; wir haben die Mehrheit und also auch das Recht, unsere Vorstellungen zu verwirklichen!»
    «Trotzdem …»
    «Und außerdem», fuhr Brennerman eifrig fort, «schlagen wir’s ja beim Gottesdienst der Männergemeinde vor … Zu einer gewöhnlichen Gemeindeversammlung kommen höchstens hundert Leute, aber am Gottesdienst der Männergemeinde werden fast dreimal so viel teilnehmen. Und der Rabbi ist nicht dabei … Wenn ihm an unserem Programm was nicht passt – hinterher kann uns das egal sein.»
    «Er weiß es zwar noch nicht», grinste Gorfinkle, «aber er wird auch zu der Sitzung vom Sonntag nicht da sein.»
    «Warum nicht?»
    «Er wollte gleich nach dem Abendgottesdienst am Samstag heimfahren. Aber Stu sagt mir, dass irgendein Professor eine Party für ihn gibt. Folglich kann er erst Sonntag früh losfahren. Sie haben ja das Kind bei sich.»
    «Klingt logisch.»
    «Der Rabbi stört mich nicht mal so sehr. Wer mir Kummer macht, ist Meyer Paff.»
    «Der?» Brennerman schmunzelte. «Lass den ruhig meine Sorge sein!»
6
    Der Laden war leer. Meyer Paff sah sich unsicher um, dann ging er auf Begg zu, der ihn finster musterte.
    «Meyer Paff», stellte er sich vor. «Mr. Morehead hat mir gesagt, Sie hätten den Schlüssel zur Hillson’schen Villa. Sie wären sozusagen der Hausverwalter …»
    «Ich wohne im alten Kutscherhaus und passe ein wenig auf», sagte Begg gelassen.
    Meyer Paff war sehr groß, und seine Bewegungen wirkten schwerfällig. Alles an ihm war groß: der runde Schädel mit dem grau-blonden Haar, die fleischige Nase, die spatenförmigen weißen Zähne, die roten Pranken mit den Wurstfingern, die Füße in den ausgetretenen Schuhen. Er sprach mit tiefer Bassstimme, wobei er die breiten Lippen kaum bewegte, sodass der Ton direkt aus dem Bauch zu kommen schien. Ein Hüne von einem Mann. Und doch fühlte er sich unbehaglich unter dem prüfenden Blick des anderen.
    «Morehead sagt, er habe Sie angerufen …»
    «Ja. Heute früh.»
    «Wenn ich also den Schlüssel bekommen könnte …»
    Statt einer Antwort bückte sich Begg und holte unter dem Pult ein Pappschild mit der Aufschrift Bin in einer Stunde zurück hervor.
    «Oh, Sie müssen nicht mitkommen. Wenn Sie mir nur den Schlüssel …»
    «Das Haus ist möbliert. Ich gebe den Schlüssel nicht an Fremde», sagte Begg unverblümt. Und als er sah, wie Paff errötete, fügte er hinzu: «Um die Tageszeit kommt sowieso keine Kundschaft. Haben Sie einen Wagen? Dann fahren Sie hinter mir her.»
    Hillson House und das benachbarte Kutscherhaus lagen auf der Landspitze, die als Tarlow’s Point bekannt war. Es waren die beiden einzigen Gebäude weit und breit; sie lagen etwa 40 Fuß von der Straße entfernt. Eine hohe, dichte Hecke säumte den Rasen rings um das Haus und ging dann in eine Gruppe von struppigen Föhren über, die sich zum Strand hinzog.
    Paff zeigte auf einen schmalen Pfad hinter der Hecke, der zum Wasser hinunterführte. «Gehört
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