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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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nicht-zionistische jüdische Linke »fassbar«, das heißt eine jüdische/nicht-jüdische Linke, die als »Partner für den Frieden« infrage kommen könnte.
    Meine Position sollte klar sein, aber es ist mir auch wichtig, dass ich zu diesen bestimmten Werten und Prinzipien über meinen eigenen Hintergrund gelange, insbesondere über Prägungen meiner Schulzeit und frühen Kindheit in jüdischen Gemeinschaften und über das Engagement in Bildungsprogrammen meiner Synagoge, das mich zum Philosophiestudium geführt hat. Ich denke, manche Werte, die sich in der Prägung meiner Kindheit und Jugend herausgebildet haben, finden sich heute in meinem ethischen und politischen Widerstand gegen den Zionismus wieder. Natürlich habe auch ich eine ganz persönliche Geschichte, wahrscheinlich mehrere, aber ich komme an dieser Stelle auf Autobiografisches nicht zu sprechen, um diese bestimmte Geschichte zu verfolgen (das werde ich vielleicht an anderer Stelle tun und dabei auch Auskunft geben über die Verluste meiner Familie unter der Naziherrschaft und über die Art und Weise, wie dieser Hintergrund meine Arbeit über Geschlechterzugehörigkeiten und sogar mein Verständnis von Fotografie und Film beeinflusst hat). Hier möchte ich jedoch Folgendes betonen: (a) Ein bestimmtes Verständnis der jüdischen Werte der Diaspora ist entscheidend für die Formulierung einer Kritik des Nationalismus und des Militarismus. (b) Der ethische Bezug zum Nicht-Juden war und bleibt Teil eines antiseparatistischen und nicht-identitären Denkens ethischer Bezüglichkeit, demokratischer Pluralität und globaler Koexistenz. (c) Widerstand gegen den illegitimen Einsatz juristischer und staatlicher Gewalt (die zugleich auch wirtschaftliche Ausbeutung und Verarmung fördert) gehört zur Geschichte jener radikal demokratischen sozialen Bewegungen, an denen Juden ganz zentral beteiligt waren, Juden, die sich gegen mutwillige Zerstörungen unter Bevölkerungsgruppen durch Staaten mit dem Ziel der Aufrechterhaltung hegemonialer oder totalitärer Kontrolle und gegen rechtlich sanktionierte Formen des Rassismus sowie gegen alle Formen kolonialer Unterdrückung und Gebietsenteignung gewandt haben. Zudem waren (d) die Lebensumstände der Staatenlosen und Flüchtlinge entscheidendfür mein Verständnis der Menschenrechte und der Kritik am Nationalstaat, an Internierung und Einkerkerung, an der Folter und ihrer Rechtfertigung durch Gesetz oder Politik. All dies führte mich mit vielen Jahren Verzögerung zum Werk von Hannah Arendt, deren Kritik am Nationalstaat und am Zionismus eine entscheidende Verbindung herstellt zwischen der Vertreibung der Juden aus Europa und der Gerechtigkeit der Ansprüche all jener – eingeschlossen die Palästinenser –, die ihres Heims, ihres Landes und ihrer politischen Selbstbestimmungsrechte beraubt wurden. Und schließlich (e) betonen die Trauerformen der jüdischen Tradition (das Schiwa -Sitzen und das Sprechen des Kaddisch ) die Wichtigkeit der Anerkennung von Verlusten in Gemeinde und Öffentlichkeit als Weg der weiteren Lebensbejahung. Das Leben kann nicht allein bejaht werden, das erfordert eine Ansammlung anderer, mit und vor denen man offen trauern kann. Gelten aber nur bestimmte Bevölkerungsgruppen als betrauerbar und andere nicht, dann wird die offene Trauer um den Verlust der einen zum Instrument der Verleugnung der Verluste der anderen. Wenn Juden nur den Tod von Juden in den Konflikten in Nahost betrauern, bekräftigen sie damit, dass nur die Angehörigen der eigenen Religion oder des eigenen Volkes der Trauer wert sind. Diese Art der Unterscheidung zwischen wertvollen und wertlosen Bevölkerungsgruppen ergibt sich nicht einfach aus der Geschichte gewaltsamer Konflikte, sondern bildet die epistemologische Voraussetzung des Konflikts selbst. In der israelischen Öffentlichkeit ist immer wieder zu hören, ein einziges israelisches Leben sei mehr wert als viele palästinensische. Aber nur, wenn obszöne Rechnungen dieser Art ein für allemal aufhören und alle Teile der Bevölkerung als betrauerbar gelten, wird sich der Grundsatz der sozialen und politischen Gleichheit durchsetzen. Betrauerbarkeit ist in diesem Sinn eine Voraussetzung von Wert, und es kann keine Gleichbehandlung geben, wenn nicht zuvor eingesehen wird, dass alle Leben das gleiche Recht auf Schutz vor Gewalt und Zerstörung haben.
    Ich beziehe mich hier zwar auf bestimmte religiöse Konzepte, aber nicht, um meine Argumentation religiös zu
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