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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Autoren: Judith Butler
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politische Lösung für die Region müsste von den gegensätzlichen ethischen und politischen Traditionen ausgehen, die dort das Verhalten, das Denken, die Zugehörigkeitsweisen und die Antagonismen bestimmen. Anders gesagt: Obgleich man ganz gewiss sagen kann, dass es jüdische Grundlagen für eine Kritik der staatlichen Gewalt gibt, die auch legitimerweise auf den Staat Israel selbst anzuwenden sind, bleibt das doch heute ein unvollständiges (obgleich wichtiges) Argument. Würden die Grundsätze der Gleichheit und Gerechtigkeit in der Bewegung gegen den politischen Zionismus ausschließlich aus solchen Quellen hergeleitet, würden sie sich sofort als ungenügend, ja als widersprüchlich erweisen. Tatsächlich erweitert noch die Kritik des Zionismus, wenn sie exklusiv jüdisch ist, die jüdische Hegemonie im Nachdenken über diese Region und wird gegen ihren Willen Teil dessen, was wir den Zionistischen Effekt nennen könnten. Alles, was die jüdische Hegemonie in der Region erweitert, ist Teil des Zionistischen Effekts, ganz gleich, ob es sich als zionistisch oder antizionistisch begreift oder nicht. Gibt es einen Weg aus dieser Zwickmühle, wenn man zugleich weiterhin den Anspruch Israels bestreiten will, die Juden und das Judentum zu repräsentieren und wenn man weiterhin die Verknüpfung zwischen dem Staat Israel und dem jüdischen Volk, ja den jüdischen Werten, wie sie von vielen immer wieder hergestellt wird, durchtrennen will?
    Mich überrascht immer wieder, dass viele Leute glauben, sich zu seinem Jüdischsein zu bekennen bedeute, sich zum Zionismus zu bekennen oder zu glauben, dass jeder, der in die Synagoge geht, auch Zionist sein muss. Ebenso beunruhigend ist, wie viele Leute glauben, das Judentum ablehnen zu müssen, weil sie die Politik des Staates Israel nicht akzeptieren können. Solange der Zionismus über die Bedeutung des Jüdischseins bestimmt, kann es keine jüdische Kritik an Israel und keine Anerkennung derjenigen geben, die jüdischer Herkunft oder jüdischer Prägung sind und das Recht des Staates Israel infrage stellen, im Namen jüdischer Werte oder auch des jüdischen Volkes zu sprechen. Gewiss lassen sich bestimmte Prinzipien der Gleichheit, der Gerechtigkeit und des Zusammenlebens aus unspezifisch ausgelegten jüdischen Quellen herleiten, aber wie soll das möglich sein, ohne diese Prinzipien damit zu jüdischen zu machen und damit andere Ansätze anderer religiöser und kultureller Herkunft und Praxis auszulöschen oder zu entwerten?
    Ein Ausweg könnte vielleicht im Nachdenken darüber liegen, was es überhaupt heißt, diese Grundsätze aus jüdischen Quellen herzuleiten. Die Idee einer solchen Herleitung hat immer etwas Zweideutiges: Wenn die betreffenden Grundsätze jüdische Quellen besitzen, bleiben sie dann im Zugeihrer Entwicklung und historischen Umgestaltung ausschließlich jüdische Grundsätze oder verlassen sie diesen exklusiven Rahmen bis zu einem gewissen Grad? Wir können noch allgemeiner die Frage stellen, ob die Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichheit, um die es in jeder Kritik am israelischen Staat und an jedem anderen Staat geht, der sich vergleichbarer Ungerechtigkeiten schuldig macht, nicht immer zu Teilen aus unterschiedlichen kulturellen und historischen Quellen stammen und dennoch keiner von diesen exklusiv »gehören«. Zu diesen Quellen können wir die klassische griechische Überlieferung zählen, die französische Aufklärung und die Kämpfe um die Befreiung von der Kolonialherrschaft im 20. Jahrhundert. In diesen wie in anderen Fällen lässt sich sagen, dass derartige Grundsätze aus ganz spezifischen kulturellen Quellen hergeleitet sind, aber das bedeutet keineswegs, dass sie ausschließlich einer einzigen Tradition entstammen. Um überhaupt einen Gerechtigkeitsbegriff aus einer spezifischen Tradition herleiten zu können, muss er Spielraum besitzen, um aus dieser Tradition auszuscheren und seine Anwendbarkeit außerhalb seines Herkunftsrahmens unter Beweis zu stellen. In diesem Sinn ist die Loslösung von der Tradition Vorbedingung jeder Tradition mit starken politischen Grundsätzen. Das Dilemma liegt also auf der Hand: Beruft sich die Kritik staatlicher Gewalt auf Prinzipien oder Werte, die letzten Endes exklusiv oder von Grund auf jüdisch in einem religiösen, säkularen oder historischen Sinn sind, dann wird das Judentum zu einer privilegierten kulturellen Ressource und bleibt der jüdische Bezugsrahmen der einzige privilegierte Bezugspunkt der
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