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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
Autoren: Nicola Vollkommer
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nicht schon wieder!«, war Jacks Antwort. Der Ruf »To the air raid shelter!« bedeutete stundenlanges Sitzen in der Dunkelheit auf einer harten Bank, Däumchen drehen und hoffen, dass es bald vorbei war. Still sitzen war für Jack eine Qual. William Sperry hatte seinen Hut geschnappt und war schon unterwegs. Als Fabrikbesitzer hatte er das Glück, nicht zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Stattdessen hatte er das Amt eines sogenannten »Air raid wardens« (Luftalarmwächter) inne und musste bei jedem Alarm dafür sorgen, dass die örtliche Bevölkerung in Sicherheit kam.
    »Das bringt doch nichts, Mutter! Wir sind zu Hause genauso sicher wie in dem Schutzraum, vielleicht sogar sicherer«, stöhnte Jack.
    Eigentlich hatte er recht. Ein richtiger Bunker war der Schutzraum nicht, sondern eine schnell errichtete Backsteinhütte an der Straße, die statt der üblichen Einzelschicht Backsteine zwei Schichten hatte. Einen direkten Treffer hätte darin niemand überlebt.
    Ohne die scharfe Überwachung seines Vaters war Jack aufsässiger als sonst, und an diesem Tag ging ihm das mühsame Warten auf die nicht eintreffende deutsche Bombe einfach zu weit.
    »Ich gehe mir kurz die Füße vertreten, Mutter! Hier ist es unerträglich muffig.«
    »Bloß nicht, komm aber gleich zurück, Jack …«
    Es war zu spät. Draußen auf der menschenleeren Straße holte Jack tief Luft, genoss die neu gewonnene Bewegungsfreiheit, überlegte sich, ob er nicht, wenn er schon draußen war, gleich nach Hause laufen sollte. Plötzlich schreckte er auf, als das charakteristische Pfeifen einer sich nähernden Bombe seine Ohren erreichte.
    »Nein, ausgerechnet jetzt …!« Keine Zeit für Flucht. Eine ohrenbetäubende Explosion, er flog in die Luft, sein Körper drehte sich, während die Wucht der Detonation ihn direkt durch den Eingang des Luftschutzraums schleuderte. Dann landete er unverletzt und auf beiden Füßen direkt vor seiner überraschten Mutter und seinem Bruder.
    »Wenn du unbedingt rausgehen und dich in Gefahr bringen musst, dann komm wenigstens anständig wieder herein«, schimpfte Elsie scherzhaft, erleichtert, ihren Sohn nach der Explosion draußen unversehrt wiederzusehen.
    Wenige Minuten später standen die Jungs vor einer Ruine, die ein paar Stunden vorher ein Familienreihenhaus gewesen war.
    »Schau, Roy«, kommentierte Jack, »das Haus ist komplett demoliert, aber da hängt der Spiegel an der Wand, schnurgerade, als ob nichts geschehen sei, und die Blumenvase steht unversehrt auf dem Tisch, als ob der Nachmittagstee gleich hereingebracht wird.«
    »Gut, dass die Bombe auch dich unversehrt gelassen hat«, war die einzige Bemerkung seines Bruders.
    Der einzige Teil von Jacks Anatomie, der dem Krieg tatsächlich fast zum Opfer gefallen wäre, waren seine falschen Zähne. Einige Jahre vor Kriegsbeginn war er an einem eisigen Wintertag beim Herumtoben auf dem Schulgelände hingestürzt und verlor dabei zwei Schneidezähne, für die er zu seinem ewigen Bedauern eine Zahnprothese bekam. Damals war der Unterschied zwischen echten und künstlichen Zähnen um einiges spürbarer als heute, ganz abgesehen davon, dass das Ersatzteil die peinliche Angewohnheit hatte, zu ungelegenen Zeiten aus seinem Mund zu purzeln. So auch an einem Samstagabend nach einem Pfadfinderausflug in den Stadtpark.
    »Jack, wo bist du bloß?«, rief Roy, der sich auf den Weg nach Hause machen wollte und seinen Bruder nirgendwo finden konnte. Abends war die Stadt stockdunkel. Wegen der Gefahr feindlicher Luftangriffe waren alle Fenster abgedunkelt, keine einzige Straßenlaterne leuchtete.
    »Hier unten!«, ertönte eine gedämpfte Stimme aus dem Gebüsch am Rande des Parks. Roy lenkte das Licht seiner Taschenlampe in die Richtung, aus der die Stimme kam. Und tatsächlich, da waren Jacks Beine gerade noch sichtbar, der Rest von ihm lag unter den Sträuchern.
    »Meine Zähne!«, lispelte Jack verzweifelt.
    Roy verdrückte ein lautes Lachen und schloss sich der verzweifelten Suche an. Mit der Hilfe der Taschenlampe fanden sie die Zähne bald und atmeten erleichtert auf.
    »Wie kamen sie ausgerechnet unter die Büsche?«, wagte Roy zu fragen, nachdem er sichergestellt hatte, dass sein Bruder wieder zu Scherzen aufgelegt war.
    »Keine Ahnung«, antwortete Jack, »sie haben irgendwie ein Eigenleben.«
    Dies sollte nicht das letzte Mal sein, dass Jack wegen seiner Zahnprothese in Verlegenheit kam.
    Beide Jungs waren im besten Alter, um einer Nation, die sich im Krieg
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