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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang
Autoren: Markus Werner
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Tische zu decken. Es war ein anderer als an den beiden Abenden zuvor. Nach einer halben Stunde ging ich ins Restaurant, es war ja möglich, daß Loos vergessen hatte, wo wir uns treffen wollten. Er saß nicht da. Als ich zu meinem Tisch zurückkam, war mein Glas abgeräumt. Der Tisch sei leider reserviert, ab zwölf Uhr, sagte der Kellner. – Für zwei Personen? fragte ich. Er nickte irritiert. Ich sagte, ich sei eine davon, so überzeugt war ich, daß Loos für uns vorgesorgt hatte. Ach so, sagte der Kellner, und ich setzte mich wieder und bestellte noch einen Campari. Mit wachsender Ungeduld schaute ich hoch zu Loos’ Fenster. Plötzlich erschien eine Frau in ihm und schüttelte kurz einen Staublappen aus. Im Zimmer war Loos also nicht. Um zwölf kam der Kellner zu mir, gefolgt von einem älteren Paar, und fragte, auf welchen Namen mein Tisch reserviert worden sei. Loos, sagte ich, Herr Loos ist Hotelgast hier. – Moment, sagte der Kellner, eilte weg, kam eilend zurück und sagte, daß auf den Namen Loos nichts reserviert sei. – Sonderbar, sagte ich, vielleicht ein Mißverständnis, entschuldigen Sie. – Ich nahm mein Glas. Seitlich oberhalb der Terrasse, auf dem Niveau der Eingangstür zum Restaurant, gab es zwei ungedeckte Tischchen aus Granit. Ich setzte mich so, daß ich die Eingangstür und die Terrasse überblicken konnte. Es wurde halb eins. Loos hatte gesagt, er sitze ab elf Uhr auf der Terrasse, sofern es die Umstände zuließen. Und ich hatte angenommen, er meine die Wetterumstände. Das war, fiel mir jetzt ein, vielleicht ein Irrtum. Vielleicht gab es andere Gründe, die ihn am Kommen hinderten. Er hatte vielleicht, fiel mir um ein Uhr ein, eine Botschaft für mich hinterlegt.
    Ich ging zur Rezeption. Ich nannte meinen Namen und fragte die Dame, ob eine Nachricht für mich da sei, von Thomas Loos, der hier logiere. – Loos? fragte sie und runzelte die Stirn und griff nach einem Buch. – Wir haben keinen Gast mit diesem Namen, sagte sie. – Doch, doch, sagte ich, wir haben zweimal hier gegessen, gestern und vorgestern abend. – Die Dame schaute noch einmal ins Gästebuch und fragte mich, ob ich die Zimmernummer wisse. – Das nicht, sagte ich, aber sein Zimmer liegt im obersten Stock, von der Terrasse aus gesehen ist es das äußerste links. – Aha, sagte die Dame, warf einen dritten Blick in ihr Buch, warf keinen sehr freundlichen Blick auf mich und sagte: Ich kann Ihnen leider nicht helfen. – Hören Sie, sagte ich, Herr Loos ist mein Freund, wir haben uns hier treffen wollen, um elf, er ist aber nicht erschienen. Es ist mir unverständlich, warum Sie mir jede Auskunft verweigern. – Ich darf Ihnen lediglich sagen, sagte die Dame, daß sich kein Gast namens Loos bei uns aufhält beziehungsweise aufgehalten hat und daß der Herr, der in besagtem Zimmer wohnte, heute, am frühen Morgen, abgereist ist. – Ein ziemlich großer, massiger Mann mit auffallend tiefer Stimme? fragte ich. – Sie zuckte nur die Achseln. Ich starrte sie an, bestürzt, ich fragte sie nach seinem Namen. – Tut mir leid, sagte sie, wir sind zur Diskretion verpflichtet, Kundenschutz. – Aber er ist doch mein Freund, wiederholte ich, ohne in meiner Verwirrung zu merken, wie wenig förderlich diese Feststellung war. Die Dame sagte denn auch, daß man den Namen eines Freundes normalerweise kenne.
    Normalerweise, dachte ich, als ich im Auto Richtung Agra fuhr, bin ich ein Mensch mit klarem Kopf und analytischem Verstand. Im Augenblick bin ich kein solcher Mensch. Im Augenblick ist mein Gehirn ein Knäuel, weshalb ich auch vergessen habe, die zwei Campari zu bezahlen. – Ich wendete den Wagen und fuhr zurück zum Bellevue, wo ich die Schuld mit zitternden Fingern beglich.
    Zu Hause duschte ich mich kalt und lange, bis meine Überhitzung nachließ. Die Faktenlage war eigentlich klar, die Auslegeordnung einfach: Loos hatte mich sitzenlassen. Wir waren uns nahe gekommen, wir hatten zwei Abende lang intensiv miteinander geredet, persönlicher werdend von Stunde zu Stunde, wir waren fast Freunde geworden – und trotzdem hatte Loos mich sitzenlassen und sich ohne Abschied verflüchtigt. Dies war das eine Faktum, das laut nach einer Deutung schrie. Noch lauter aber schrie das zweite und ziemlich unerhörte: Loos, ein kultivierter, anscheinend unbescholtener, wenn auch etwas verdrehter Mensch, quartiert sich unter falschem Namen in einem Hotel ein.
    Ich überlegte zuerst, ob ich am Abend zuvor vielleicht etwas geäußert hatte,
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