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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Autoren: Charlotte Link
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Tochter.«

    Da Ricarda überdies bereits im Auto verkündet hatte, sie werde am gemeinsamen Abendessen keinesfalls teilnehmen, war Alexander nun auf den Dachboden hinaufgestiegen, um mit ihr zu reden. Jessica war gespannt, ob er etwas ausrichten würde.
    Die Tür flog auf, und eine atemlose Evelin stürzte in die Küche. Sie hatte sich für das Abendessen umgezogen, wie immer etwas zu aufwendig. Das himmelblaue Seidenkleid, das figurumspielend lässig geschnitten war, hätte Jessica äußerstenfalls im Theater angezogen. Hier auf Stanbury trug sie fast ausschließlich Jeans und Sweatshirts.
    »Ich bin ziemlich spät dran«, sagte Evelin und wirkte dabei nicht wie eine erwachsene Frau, sondern wie ein Schulmädchen, das sich für ein Versäumnis schämt, »es tut mir leid. Ich habe die Zeit vergessen ...« Sie hatte hektische rote Flecken im Gesicht. »Wo ist Patricia?«
    »Die hat bestimmt auch die Zeit vergessen«, meinte Jessica gleichmütig. »Keine Sorge. Es dauert sowieso eine Weile, bis das Wasser kocht.«
    »Ich weiß überhaupt nicht, wo Tim steckt.«
    Jessica deutete zum Fenster hinaus. »Er ist draußen mit Leon. Die beiden scheinen äußerst tiefschürfende Gespräche zu führen. «
    Evelin setzte sich auf einen Stuhl. »Soll ich Tomaten schneiden? «
    »In diesem Kleid solltest du das besser nicht tun. Außerdem … deine Hand!«
    Evelins linke Hand war bandagiert, ein Unfall beim Tennis, wie sie den anderen morgens beim Aufbruch berichtet hatte. Evelin spielte regelmäßig Tennis und ging täglich ins Fitneßstudio, sie joggte und machte bei einem Aerobic-Kurs mit, aber sie war völlig unsportlich und ungeschickt und zog sich häufig Verletzungen zu. Kein Wunder, dachte Jessica oft, bei ihrer Figur!
    Evelin war nicht einfach üppig, sie war fett, und sie schien ständig zuzunehmen. Ihre sportlichen Aktivitäten vermochten
nicht den Umstand auszugleichen, daß sie sich praktisch von morgens bis abends Kalorien in Form von Torte, Schokolade und allzu vielen Gläsern Prosecco zuführte. Sie wirkte nicht glücklich, trotz des schönen Hauses, in dem sie wohnte, und der intakten Ehe, die sie führte. Sie übte keinen Beruf aus und hatte keine Kinder, und Tim, ihr Mann, war den ganzen Tag über in seiner psychotherapeutischen Praxis tätig, die sehr erfolgreich lief und ihm eine Menge Geld einbrachte. Evelin war viel allein. Sie strahlte Einsamkeit und Niedergeschlagenheit aus.
    »Vor sechs Jahren«, hatte Patricia erzählt, »hat sie bei einer Fehlgeburt im sechsten Monat ihr Baby verloren, und seitdem scheint es mit einer erneuten Schwangerschaft nicht zu klappen. Ich glaube, das macht ihr schwer zu schaffen.«
    »Was wirst du tun in diesen Ferien?« fragte Evelin nun. »Wieder soviel laufen?«
    Jessica hatte die Freunde von Anfang an mit ihrer Leidenschaft für endlos lange, einsame Spaziergänge verblüfft. Stets war sie mindestens zwei oder drei Stunden unterwegs, gleichgültig, ob es regnete oder die Sonne schien. Manchmal sahen die anderen sie den ganzen Tag nicht. Jessica wußte, daß Patricia deswegen schon genörgelt hatte; sie fand, Jessica grenze sich zu sehr ab und gehe zu oft ihrer eigenen Wege. Alexander hatte es ihr erzählt.
    »Vielleicht solltest du sie oder Evelin einmal bitten, dich zu begleiten«, hatte er gemeint, »oder dich ihnen anschließen. Sie könnten sonst das Gefühl bekommen, du magst sie nicht besonders. «
    »Ich kann Menschen mögen und muß trotzdem nicht rund um die Uhr mit ihnen zusammensein. Patricia und Evelin stehen ständig am Rand einer Wiese und schauen Patricias Töchtern beim Reiten zu. Das ist einfach nichts für mich.«
    »Ich denke ja auch nur, daß du es zwischendurch mal machen könntest. Um ein bißchen Gemeinsamkeit herzustellen.«
    Jessica hatte ein paarmal versucht, seinem Wunsch zu entsprechen, aber sie hatte sich dabei fast zu Tode gelangweilt. Diane und
Sophie waren auf ihren Ponys im Kreis herumgeritten, und Patricia hatte jede Bewegung ihrer Töchter kommentiert und jede Menge Anekdoten aus ihrer beider Leben erzählt. Was sie ohnehin meistens tat. Patricia kannte kein anderes Thema als ihre Familie. Ihre Kinder, ihr Mann. Ihr Mann, ihre Kinder. Gelegentlich ging es noch um Freunde ihrer Kinder oder Lehrer ihrer Kinder, und dann und wann um Prozesse ihres Mannes, der Anwalt war, und zwar - wenn man Patricia Glauben schenken wollte - einer der erfolgreichsten und bedeutendsten in ganz München. Patricias Welt war so heil, daß es ein normaler Mensch
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