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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Autoren: Charlotte Link
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besessen«, vollendete Phillip ihren Satz. »Sagen Sie es ruhig. Besessen. Fanatisch. Vollkommen in diese Sache verbohrt. Aber dann habe ich nachgedacht, vielleicht zum erstenmal, seitdem ich hinter Stanbury House herjagte. Damit meine ich, zum erstenmal habe ich den Gedanken zugelassen, daß Kevin McGowan vielleicht nicht mein Vater ist . Vielleicht ist er ein Fernsehschwarm meiner Mutter, den sie später in ihren Morphiumphantasien zu ihrem Liebhaber erkoren hat. Vielleicht ist er aber auch tatsächlich mein Erzeuger, vielleicht hat es die Affäre wirklich gegeben. Aber Erzeuger ist nicht gleich Vater. Ein Vater übernimmt Verantwortung, er macht sich nicht aus dem Staub mit dem Gedanken: zum Teufel, was aus dieser Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle wird, die da auf den Weg gebracht wurde. In diesem Sinn wäre er also so oder so nicht mein Vater gewesen. Verstehen Sie?«
    »Ja. Ja, natürlich.«
    »Und«, fuhr Phillip fort, »als ich so nachdachte, begriff ich, daß er auch nicht dadurch zu meinem Vater würde, daß ich in seinem Haus sitze, die Wände anstarre und imaginäre Gespräche
mit einem Toten führe, der mir auf nicht eine einzige meiner Fragen eine Antwort geben kann. Ich würde wieder nur ins Leere laufen. Er hat sich mir immer entzogen, zum Schluß absolut und endgültig durch sein Sterben. So ist es. Und das muß ich akzeptieren. Damit muß ich leben.«
    »Können Sie damit leben?«
    »Damit, keinen Vater zu haben?« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr sogleich fort: »Als ich gestern früh durch das Wäldchen hinter Stanbury House schlich, fragte ich mich etwas anderes. Ich fragte mich: Kann ich damit leben, diesen Vater zu haben? Wohin hatte mich die Offenbarung meiner Mutter gebracht? Ich war auf der Flucht. Ich wurde im ganzen Land als Hauptverdächtiger in einem besonders scheußlichen Mordfall gesucht. Ich hatte Hunger und Durst und Angst. Ich hatte Geraldine, meiner Freundin, Gewalt angetan, was mir unendlich leid tut. Und ich hatte endlose Stunden damit zugebracht, Zeitungsartikel über einen toten Fernsehjournalisten zu sammeln und in idiotischen Aktenordnern abzuheften. Ich meine, ich habe das nicht hin und wieder nebenher getan. Es war mein Leben. Ich habe kaum noch gearbeitet. Ich habe überhaupt kein Geld mehr verdient. Ich habe mich von der armen Geraldine aushalten lassen und habe wie ein Maulwurf in dunklen Archiven gesessen, von morgens bis abends, und habe diesen ganzen verdammten Käse über Kevin McGowan zusammengeklaubt und fotokopiert und nach Hause geschleppt und in diese Ordner gesteckt. Verdammt, und draußen lief das Leben vorbei! Und als Geraldine diese Ordner verbrannte, bin ich völlig ausgeflippt. Ich hätte sie am liebsten getötet.«
    Er war laut geworden, und die Journalisten vor dem The Fox and The Lamb schauten zu ihnen her. Leise sagte er: »Vielleicht habe ich da bereits begonnen, zu begreifen, daß ich umkehren muß. Daß mich dieser Weg ins Verderben führt, und sonst nirgendwohin. «
    Jessica schwieg. Er hatte mit jedem Wort recht, das er sagte,
aber noch vor kurzem wäre er auf jeden Menschen mit den Fäusten losgegangen, der ihm das gleiche gesagt hätte. An den Punkt, an dem er jetzt war, hatte er nur von ganz allein gelangen können.
    »Vielleicht«, sagte Phillip, »war es auch einfach nur zu schön, ein Stück der Verantwortung für mein Leben an Kevin McGowan abzugeben. Aber das funktioniert nicht. Wenn wir versuchen, Verantwortung loszuwerden, machen wir uns letztlich immer nur etwas vor. Irgendwann stehen wir dann da und kapieren, daß sie uns nie verlassen hat. Sie klebt an uns. Es gibt vielleicht nichts, was so verdammt hartnäckig klebt.«
    »Was werden Sie jetzt tun?« fragte Jessica.
    »Ich kehre nach London zurück. Jede Wette, daß mich Geraldine in meiner Wohnung erwartet und über unsere Zukunft sprechen will. Ich habe ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, und das wird uns beide noch für eine Weile zusammenhalten. Im übrigen werde ich versuchen zu arbeiten. Ich weiß noch nicht, als was. Vielleicht bin ich für einen richtigen Beruf nicht geschaffen. Vielleicht bleibt’s für immer bei Gelegenheitsjobs. Man wird sehen. « Er streckte den Arm aus, berührte in einer flüchtigen, zärtlichen Geste Jessicas Wange. »Und Sie? Was tun Sie?«
    »Ich kehre nach Deutschland zurück. Ich suche für mich und Barney ein neues Zuhause. Ich arbeite in meiner Praxis. Ich versuche, Evelin nach Deutschland überstellen zu lassen. Im
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