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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
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grauen Locken ließen sie bedrohlicher und männlicher aussehen als sonst, trotz des femininen Kostüms, das sie trug. Sie wandte den Kopf nach rechts, und ihre Brillengläser blitzten im Licht der Neonlampen.
    »Ich wollte eine Diskussion über ein Gedicht entfachen, dessen kanonische Bedeutung niemals in Frage gestellt wurde«, fuhr Tirosch fort – und wieder wurde im Publikum gelächelt – »denn es wird Zeit«, – er zog die Hand aus der Tasche und schaute Dawidow direkt an – »daß in den Seminaren des Fachbereichs offen über umstrittene Themen diskutiert wird, Themen, die wir nicht anschneiden, weil wir Angst haben. Wir vermeiden es, sie nach objektiven theoretischen Kriterien zu beurteilen, denn oft haben sie keinen wirklichen Inhalt und vertreiben häufig genug unsere besten Studenten gähnend aus diesem Saal.« Die junge Frau neben Ruchama schrieb noch immer jedes Wort mit.
    Wieder vergaß Ruchama, auf die Worte zu achten, sondern lauschte nur der Stimme, die sie mit ihrem weichen Klang einhüllte, mit ihrer Musikalität, ihrer Süße. Es gibt Dinge, dachte sie, die eine Kamera oder ein Aufnahmegerät nie im Leben festhalten können.
    Solange sie ihn kannte, seit zehn Jahren, verzauberte sie die Stimme dieses Mannes, des Literaturtheoretikers und Kritikers, Mitglied der berühmtesten Akademie der Welt und »einer der größten zeitgenössischen Dichter Israels«, wie die Meinung der Literaturkritiker seit Jahren in seltener Übereinstimmung lautete.
    Wieder hatte sie den Impuls, aufzustehen und öffentlich zu verkünden, daß dieser Mann ihr gehörte, daß sie vorhin aus seinem Bett gestiegen war, in seinem gewölbten, dämmrigen Schlafzimmer, daß sie die Frau war, mit der er gegessen und getrunken hatte, bevor er hierhergekommen war.
    Sie blickte sich um, betrachtete die Gesichter der Leute. Der Saal war in das gleißende Licht der Scheinwerfer getaucht.
    »Ich werde über Bialik sprechen. Das wird sie wachrütteln«, hatte sie ihn vorhin mehr zu sich selbst sagen hören, als er seine Einführung vorbereitete. »Niemand wird auf die Idee kommen, daß ein solcher Abend ausgerechnet mit Bialik eröffnet wird, und der Überraschungseffekt ist die Hauptsache. Sie glauben, daß ich ein zeitgenössisches Gedicht lesen werde, aber ich werde ihnen beweisen, daß auch Bialik überraschen kann.«
    Stürmischer Beifall war im Saal zu hören, als er seinen Vortrag beendet hatte. Sie konnte sich ja später die Aufnahme im Radio anhören, beruhigte Ruchama sich selbst, als ihr klar wurde, daß die Einführung zu Ende gegangen war, während sie in Gedanken die Bilder dieses Nachmittags an sich hatte vorbeiziehen lassen, und die eines anderen Nachmittags, und die von der Nacht letzte Woche, und die Bilder ihrer gemeinsamen Reise nach Italien. Sie hatte daran gedacht, daß es nächste Woche drei Jahre sein würden, die sie zusammen waren, drei Jahre waren vergangen, seit er sie zum ersten Mal im Fahrstuhl des Hauses Maiersdorf geküßt hatte und ihr dann in seinem Büro gesagt hatte, daß er trotz der vielen Frauen in seinem Leben immer nur sie gewollt habe, jedoch nicht geglaubt hatte, daß sie sich für ihn interessiere. Ihre stadtbekannte Reserviertheit habe ihn von dem Versuch abgehalten, bis zu ihr durchzudringen. Er habe auch angenommen, ihre Zuneigung zu Tuwja mache sie unerreichbar.
    Wieder sah sie verträumt auf seine Hand, die das offene Buch hielt, auf seine langen, braunen Finger. Der Chamsin, der heiße Wind aus der Wüste, der an diesem Abend schwer und trocken über Jerusalem hing, so wie es nur hier möglich war, hatte ihn nicht davon abgehalten, wie immer einen dunklen Anzug anzuziehen. Und natürlich trug er in der Brusttasche die übliche rote Nelke, die ihm, zusammen mit dem Anzug und der silbernen Haartolle, dieses europäische, kosmopolitische Aussehen verlieh, das so viele Frauen erobert hatte und ihn zu einer Legende hatte werden lassen.
    »Wer wäscht ihm die Hemden?« hatte Ruchama einmal eine Studentin fragen hören, die zusammen mit anderen in einer langen Schlange vor seinem Zimmer auf den Beginn der Sprechstunde wartete. »Wie schafft es ein Mann, der allein lebt, so auszusehen?« fragte sie, als er an den Studenten vorbei in seinem Zimmer verschwunden war. Ruchama hatte die Antwort nicht mehr gehört, denn sie war hinter ihm hergeeilt, um den Schlüssel, den Schlüssel zu seiner Wohnung, zu holen, wo sie auf ihn warten würde, wenn seine Sprechstunde vorüber war.
    Nie hatte irgendeiner
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