Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
seiner Studenten gewagt, ihm irgendeine persönliche Frage zu stellen. Sogar sie wußte die Antworten auf solche Fragen nicht, obwohl sie, ebenso wie die wenigen anderen, denen es gestattet war, in seine Privat-räume vorzudringen, wie zum Beispiel Tuwja, wußte, daß er die roten Nelken in dem kleinen Kühlschrank aufbewahrte, jede Blüte einzeln mit einer Sicherheitsnadel versehen, fix und fertig zum Anstecken.
    Seine Aufmerksamkeit für kleine Details entzückte sie. jedesmal wenn sie in seiner Wohnung war, öffnete sie schnell seinen Kühlschrank, um zu sehen, ob sie noch immer da waren, die roten Nelken in der durchsichtigen Vase. Nie sah sie andere Blumen in seiner Wohnung, er besaß noch nicht einmal eine zweite Vase. Ihre Frage, ob er Blumen liebe, hatte er verneint. »Nur künstliche«, hatte er gesagt und gelächelt, »oder ganz lebendige, wie dich zum Beispiel.« Jede weitere Frage verhinderte er mit einem Kuß. Die wenigen Male, die sie gewagt hatte, ihn direkt auf sein theatralisches Benehmen anzusprechen, auf seine Art, sich zu kleiden, die Nelken, die Krawatte, die Manschetten, das weiße Hemd, bekam sie keine ernsthafte Antwort. Immer machte er einen Scherz oder fragte sie, ob sie seine Erscheinung nicht möge, und nur einmal sagte er explizit, er habe aus Spaß damit angefangen, eine Nelke zu tragen, und betrachte es heute als eine Art Verpflichtung gegenüber seinem Publikum.
    Tiroschs Akzent verriet nicht, daß er nicht in Israel geboren war. »Geboren in Prag« stand im Klappentext seiner Bücher, von wo er vor fünfunddreißig Jahren nach Israel emigriert war. Er erzählte ihr von Prag, »der schönsten Hauptstadt Europas«. Nach dem Krieg war er mit seinen Eltern nach Wien gegangen. Über den Krieg sprach er nie. Er erzählte niemandem, wie sie die Nazis überlebt hatten, er und seine Eltern, noch nicht einmal, wie alt er gewesen war, als sie Prag verlassen hatten. Nur über die Zeit davor oder danach war er bereit zu sprechen. Von seinen Eltern hatte er einmal gesagt: »Sie waren sensible und geistvolle Menschen, die noch nicht einmal den Umzug nach Wien überlebt haben, edle Seelen.« In ihrer Vorstellung sah sie eine schlaksige, dunkle Frau, seine Mutter, mit knisternden Seidenkleidern, die sich über die Silhouette eines Kindes beugte. Tirosch als Kind konnte sie sich nicht richtig vorstellen, nur als eine verkleinerte Ausgabe, als eine Miniatur seiner heutigen Erscheinung. Sie sah ihn vor sich, wie er auf englischem Rasen zwischen duftenden Blumen spielte. (Sie selbst war nie in Prag gewesen, auch nicht in Wien.) Von seiner Kindheit erzählte er nur einige wenige Einzelheiten. In einer der seltenen Minuten von Offenheit, als sie sich über seine Reinlichkeit und zwanghafte Ordnung wunderte, erwähnte er »eine Reihe junger Kindermädchen, die man Fräulein nannte, Gouvernanten, weißt du, wie in Büchern. Sie haben mich eigentlich aufgezogen, und ihnen habe ich es vermutlich zu verdanken, daß ich bis heute nicht geheiratet habe.«
    Er war erst zwanzig gewesen, als er nach Israel kam, und niemand erinnerte sich, ihn je anders gekleidet gesehen zu haben.
    »Und was macht er bei der Armee?« hatte Aharonowitsch einmal Tuwja gefragt, noch nicht einmal spöttisch, sondern in einer Art säuerlichen Erstaunens. »Wie schafft er es bei der Armee, sich so zu kleiden? Und ich meine nicht nur seine Kleidung, sondern auch seine ausgefallenen Eßgewohnheiten. Angeblich trinkt er Weißwein zum Essen und am Abend Brandy aus einem ganz bestimmten Glas. Ich frage mich bloß, warum eine so bedeutende Persönlichkeit uns, die Provinzler, mit seiner Anwesenheit beehrt, statt die große Welt in einer echten Metropole, Paris zum Beispiel.« Ruchama erinnerte sich sogar, wie geräuschvoll Aharonowitsch seinen Kaffee geschlürft hatte, bevor er lächelnd weitersprach: »Andrerseits, an einem Ort wie Paris hätte man nicht jedes Niesen und jedes Gähnen bemerkt, das der Herr von sich zu geben geruht, während in unserem winzigen Land, wie der Dichter sagt, ein Mann leichter zur Legende wird. Die Presse berichtet immer prompt über jeden Besuch des Herrn Tirosch in irgendeinem Salon.« Tuwja war damals Student, kurz vor seinem Abschluß als Bachelor of Arts, er war noch nicht Tiroschs Assistent und hatte noch keine besondere Beziehung zu ihm.
    »Dieser Mann ist eine fremde Pflanze in unserer Landschaft«, hatte Aharonowitsch behauptet, und Ruchama erinnerte sich, daß sie ein Lächeln unterdrücken mußte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher