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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
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ernsthafte Antwort verlangt. Er hat mich angeschaut, als sei ich krank, als müsse man vorsichtig mit mir umgehen, und dann hat er gesagt: ›Du willst wissen, ob ein Künstler der Moral unterworfen werden solle oder ob die Kunst der Moral untergeordnet werden solle?‹ Und dann sagte er, wir hätten doch schon so oft darüber gesprochen, und jetzt habe er keine Zeit.«
    Wieder schwieg Tuwja Schaj, dann wandte er sich an Michael und fragte: »Was denken Sie über Moral und Kunst?«
    Michael war die Kehle wie zugeschnürt. Einen Moment lang erwog er zu lächeln und sich mit einer witzigen Gegenfrage aus der Affäre zu ziehen. Doch dann sah er Tuwja Schajs erwartungsvolles Gesicht vor sich und begriff, daß er ernsthaft antworten mußte, wenn er ein Geständnis haben wollte. Und es gab nichts, was er lieber wollte als ein unterschriebenes Geständnis. Von allen Gesprächen, die er im Laufe seiner Ermittlungen schon geführt hatte, war dies das verrückteste gewesen, sagte er später zu Schorr. Diese Frage war die letzte, die er während einer polizeilichen Ermittlung erwartet hätte. Aber er habe keine Wahl gehabt, sagte er entschuldigend zu Imanuel, er habe sie ernsthaft beantworten müssen, ohne Ausrede, weil Tuwja Schaj ihn prüfte.
    »Am Anfang«, sagte Michael später zu Schorr, »habe ich überlegt, ihm die Frage zurückzugeben, zu sagen: Was ist denn Ihre Meinung? Aber dann habe ich gesehen, daß er bei meinem ersten Versuch zu tricksen, beim ersten abfälligen Wort, nichts mehr sagen würde. Deshalb hatte ich keine Wahl.« Schorr hörte sich die Aufnahme des Verhörs an, und zu Michaels Erleichterung fing er nicht an zu spotten.
    »Ich glaube nicht, daß man zwischen Kunst und Künstler trennen muß«, sagte Michael mit ernstem Gesicht.
    »Was heißt das?« fragte Tuwja Schaj, als befände er sich in einem Seminargespräch.
    »Das heißt, daß das, was Sie über Nietzsche gesagt haben, sich von dem unterscheidet, was ich immer gedacht habe. Sehen Sie, das sind natürlich keine Themen, über die ich jeden Tag nachdenke. Ich weiß nicht, ob ich genau formulieren kann, was ich meine.« Er schwieg, bemüht um Konzentration. Er war verlegen und fühlte, daß das, was er sagte, eine gewisse Ernsthaftigkeit und Tiefe aufweisen mußte. »Für mich spielt Kunst nicht dieselbe Rolle ... nicht daß sie mir nicht wichtig wäre, doch, sie ist mir wichtig. Aber ich bin sicher, daß sie mir nicht dasselbe bedeutet wie Ihnen. Überhaupt, ich glaube, daß die Liebe zu anderen das wichtigste Motiv für konstruktives Handeln ist.« Es wurde still. Tuwja Schaj wartete auf die Fortsetzung, und Michael fragte sich: Glaube ich das wirklich? Wer sagt denn, daß ich das tatsächlich glaube? Laut fuhr er fort: »Ich glaube also, daß es für einen großen Künstler wichtiger ist zu lieben, als geliebt zu werden, im Einzelfall und im allgemeinen. Ein Schriftsteller, der nicht von diesem Bedürfnis getrieben wird, kann nicht das Mitgefühl aufbringen, das notwendig ist, um eine Figur aus Fleisch und Blut zu schaffen.« Er erinnerte sich an einen Satz, den er einmal in einem Vorwort über Literatur des Mittelalters gelesen hatte: »Sogar Kafka, der die menschliche Existenz im Absurden gezeigt hat, sogar er hat eine ganze Welt erschaffen. Und sagen Sie mir nicht, daß Sie bei ihm kein Erbarmen finden. Ich kenne kein Kunstwerk, das mir gefallen hat, das nicht – offen oder versteckt – auf dem basierte, was Sie, die Literaten, Liebe zu und Erbarmen mit den Menschen nennen.« Er schwieg und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Ich glaube auch, daß jedes große Kunstwerk immer auch eine Option für das Leben ist.« In Tuwjas Gesicht war der Schatten eines ironischen Lächelns zu sehen. Er zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch kein Wort. Michael bemerkte die leichten Veränderungen, fuhr aber mit derselben Ernsthaftigkeit fort: »Sogar im Absurden. Sie führen das Absurde als Axiom an und zeigen die Erniedrigung und das alles, damit wir uns im Spiegel sehen und unser Leben auf dieser absurden Welt verändern. Meiner Meinung nach verlangt das ein hohes Maß an Moral. Vielleicht noch mehr als sonst. Man muß im Dreck stecken und wissen, daß es Dreck ist. Wer nicht moralisch ist, weiß nicht, daß es sich um Dreck handelt. Wenn jemand vollkommen zynisch ist, dann kann er seine Welt und sein Leiden nicht auf eine Art zeigen, die andere erschüttert.«
    Tuwja Schaj schaute Michael an und schwieg. In seinen Augen leuchtete noch immer das, was
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