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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
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anfing zu sprechen. »Ido ist zu mir gekommen. Natürlich habe ich es erst einmal nicht geglaubt. Meine Bedürfnisse beherrschten mich. Aber nur ein paar Minuten lang. Bis er mir die Kassette vorspielte, die er mitgebracht hatte. Ido fragte Boris Singer, ob er ihm ein paar Gedichte Ferbers aufs Band sprechen könne, aus dem Gedächtnis, und Boris Singer begann, Scha'uls Gedichte zu deklamieren – nur daß sie nicht von Scha'ul waren. Da habe ich es endlich geglaubt. Ich hatte keine Wahl. Vor allem die Änderungen haben mich überzeugt. Boris sagte Namen und Orte, die Scha'ul geändert und den hiesigen Verhältnissen angepaßt hatte. Ferbers Birken waren zu Kiefern geworden, und die großen Bären zu Schakalen. Ido behauptete, ich sei der Mensch mit der größten Berechtigung und der größten Macht, Tirosch entgegenzutreten und die Wahrheit ans Licht zu bringen. ›Du wirst die Wahrheit ans Licht bringen‹, hat er in jener Nacht gesagt, und den Satz so oft wiederholt, bis ich ihn im Kopf hatte. Danach hörte ich den Satz den ganzen Tag und die ganze Nacht. Auch jetzt, wenn ich an Ido denke, höre ich die erstickte Stimme, mit der er den Satz sagte. Ich habe Ido versprochen, daß die Wahrheit ans Licht käme. Ido verlangte es ›um Ferbers willen‹, aber bei mir lag das Motiv tiefer. ›Um der Wahrheit willen, um der Kunst willen‹, habe ich zu ihm gesagt. Ich habe danach stundenlang das Haus nicht verlassen. Immer wieder habe ich die Gedichte gelesen, auch die Einleitung, die Tirosch zu Ferbers Buch geschrieben hat. Plötzlich kam mir alles so albern vor, wie konnte man mit solchen Dingen seinen Spaß treiben, fragte ich mich, wie konnte man so lügen und betrügen, und wofür? Im Vergleich dazu halte ich Mord wirklich für eine Kleinigkeit. Es tut mir nicht leid.«
    In der Stille, die sich über das Zimmer senkte, konnte man auf dem Korridor Schritte hören. Das Telefon klingelte, doch Michael ignorierte es.
    Die Stille zog sich in die Länge, und Tuwja Schaj sah aus, als versinke er in sich selbst, als habe er vergessen, wo er sich befand. Deshalb sagte Michael: »Und dann sind Sie zu ihm ins Zimmer gegangen, nach dem Mittagessen.«
    »Ja«, bestätigte Tuwja Schaj, und als sehe er das Bild vor sich, fügte er seufzend hinzu: »Die Fakultätssitzung ist mir schwergefallen. Ihn so entblößt zu sehen, seine Manieriertheiten anzuhören, zu wissen, daß das mit nichts begründet war, und trotzdem zu schweigen, das war schwer. Aber er war so versunken in seine Angelegenheiten, daß er kein Wort über meine Schweigsamkeit verlor. Beim Mittagessen sprach er über Ido. ›Eine Krise‹, ›angespannte Nerven‹, das sind die Worte, die er benutzt hat. Nie werde ich vergessen, wie er zu mir sagte, wie ein Klatschweib: ›Er hat sogar Halluzinationen, aber ich möchte nicht ins Detail gehen.‹ Er kam nicht auf die Idee, daß ich schon Bescheid wußte. Er sagte, es könne sein, daß man Ido aus dem ganzen Universitätsbetrieb ein bißchen raushalten müsse, weil die Doktorarbeit ihn ganz fertig mache. Ich saß ganz ruhig da und antwortete nicht. Das waren die schlimmsten Stunden. Aber ich wollte mit ihm allein im Zimmer sein. In den Tagen, nachdem Ido mir alles erzählt hatte, hatte ich die Konfrontation geplant. Alles. Ich hatte keinerlei Zweifel, daß ich ihn dazu bringen würde, das Richtige zu tun. In meiner Naivität hatte ich sogar angenommen, er wäre erleichtert über die Möglichkeit, ein Bekenntnis ablegen zu können. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe, mir ist einfach nicht in den Sinn gekommen, daß er die Frechheit hätte, sich zu weigern. Hybris, wir alle leiden an der Hybris.«
    Wieder schwieg Tuwja Schaj lange, und sein Gesicht war völlig ausdruckslos.
    »Und dann haben Sie ihm die Kassette vorgespielt?« sagte Michael langsam.
    »Nicht sofort. Wir saßen bei ihm im Zimmer, und er sagte, er müsse gehen, und drückte mir die Sachen in die Hand, die ich Adina geben sollte. Er hat sich benommen, als sei er sicher, daß ich weiterhin sein Laufbursche sein würde. Ich sagte: ›Bist du sicher, daß ich auch weiterhin dein Laufbursche sein werde?‹ Er schaute mich an, als sei ich verrückt geworden. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er glaube, daß ein großer Künstler das Recht habe, sich selbst als jemanden zu betrachten, der keiner Moral unterworfen sei. Er hat sein übliches ironisches Gesicht gemacht, das mich vorher nie gestört hatte, mich aber in diesem Moment sehr wütend machte. Ich habe eine
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