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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
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wütend. »Jetzt reden Sie Blödsinn.«
    »Sie verstehen«, fuhr Michael fort, als habe er den Einwurf nicht gehört, »nachdem ich mit Boris Singer gesprochen hatte, verstand ich, daß man von so etwas verrückt werden kann. Nicht alle, aber es gibt Menschen, die das können, wenn sie ihre Prinzipien ernst nehmen.«
    »Ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen.« Tuwja Schajs Stimme zitterte.
    »Haben Sie daran gedacht, wie Boris sich fühlt? Er hat alles für Anatoli getan, er hat ihm sein Leben geweiht, und Sie haben selbst gehört, was er zu sagen hatte. Niemand auf der Welt weiß besser als Sie, wie Boris sich gefühlt hat, auch wenn er, im Unterschied zu Ihnen, nicht von dem Menschen betrogen wurde, den er geliebt hat, sondern von jemand anderem, und ich bin sicher, daß Sie genügend Moral besitzen, um mir zuzustimmen, wenn ich sage, daß man wenigstens dieses Unrecht wiedergutmachen muß.«
    Tuwja Schaj hob den Kopf. In seiner Stimme lag Wut, als er sagte: »Lassen wir doch die Moral jenen, die nichts anderes haben, mit dem sie sich schmücken können.«
    Michael blickte Tuwja Schaj direkt an. »Ihr Alibi wakkelt. Und der Detektor – Sie wissen, daß es schwer ist, den Detektor erfolgreich zu betrügen, er arbeitet simultan mit fünf Parametern. Ein Mensch kann nicht alles beherrschen. Wenn es ihm gelingt, die Schweißabsonderung und den Herzschlag in den Griff zu bekommen, steigt sein Blutdruck. Das haben Sie nicht gewußt. Alle Verhöre mit dem Detektor haben gezeigt, daß Sie lügen. Doch ich habe Sie noch nicht festnehmen lassen, weil mir der ganze Zusammenhang gefehlt hat. Sie haben Scha'ul Tirosch ermordet, weil er Sie als Dummkopf dastehen ließ, weil er die Tatsache aufdeckte, daß Sie Ihr Leben einer Sache gewidmet haben, die nichts anderes war als eine Lüge.«
    Michael betrachtete das veränderte Gesicht des Mannes ihm gegenüber. Der tote Ausdruck des blassen Mannes war verschwunden, Tuwja Schajs Gesicht zeigte eine Stärke, die er noch nie an ihm bemerkt hatte. Wütend sagte er: »Wer sind Sie überhaupt? Sie verstehen doch gar nichts. Sie wissen nicht, worüber Sie sprechen. Mein Leben ist nicht so wichtig, auch Ihres nicht. Auch Tiroschs Leben war nicht so wichtig, wenn ich in ihm auch den großen Priester der Kunst gesehen habe. Aber man kann unmöglich von Ihnen erwarten, daß Sie solche Dinge verstehen. Wer zu den Leuten gehört, die Strafzettel verteilen und Demonstrationen auflösen, kann solche Dinge nicht verstehen.«
    Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen dachte Michael an Dostojewski, an Porfirij und Raskolnikow. Bin ich so ähnlich wie Porfirij? fragte er sich, als Tuwja Schaj sprach, schließlich ist alles, was mich im Moment treibt, der Beweis für das Gericht. Und die Neugier. Aber man kann unmöglich sagen, daß ich keine Sympathie für ihn empfinde, dachte er, als er das Gesicht ihm gegenüber betrachtete, er hat etwas, was mir Achtung abnötigt. Ich darf das nicht alles so extrem sehen, sagte er sich warnend. Ich muß ihn zum Reden bringen. Ihm das Gefühl geben, daß ich ihn wirklich nicht verstehe, daß es sich aber lohnen würde, wenn ich ihn verstehe, denn ich weiß ohnehin schon alles. Er scheint mir nicht so erfahren zu sein in diesen Dingen, es wird ihm schwerfallen, sich nicht selbst anzuklagen.
    Tuwja Schaj fuhr fort zu sprechen: »Banalitäten interessieren mich nicht, das Privatleben von Menschen wie Ihnen und mir. Was aber noch lange nicht heißt, daß ich ohne weiteres ins Gefängnis ginge, warum sollte ich? Aber meine Motive sind nicht die gleichen wie Singers Motive. Ich verstehe ihn zwar, aber er, der nicht ist wie ich, unterliegt den üblichen Gesetzen von fanatischen Anhängern. Ich war kein fanatischer Anhänger. Ich pfeife auf eure Konventionen, und der Mensch Scha'ul Tirosch hat mich nicht im geringsten interessiert. Ich war nicht eifersüchtig auf meine Frau und ich habe ihn nicht umgebracht, weil er sie verlassen hat, das hätte bedeutet, daß ich sie oder ihn oder mich selbst in den Mittelpunkt gestellt hätte, als fanatischer Anhänger irgendeines Menschen oder irgendeiner Theorie. Ich stelle mich nicht in den Mittelpunkt. Sie können noch nicht mal begreifen, daß ich mich nicht schuldig fühle. Sie glauben, daß ich ein Psychopath bin? Das bin ich nicht. Wenn ich ihn aus persönlicher Rache umgebracht hätte, würde ich mich schuldig fühlen. Ich habe keine Schuldgefühle. Ich bin sicher, daß ich das Richtige getan habe, obwohl niemand verstehen wird,
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