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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer
Autoren: Andreas Malessa
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Jugendjahren eine Strecke von, sagen wir, 350 Kilometern auf der Autobahn zu fahren hatten, dann lautete die wichtigste Frage: »Wie weit reicht die Tankfüllung noch?« Die hatte nämlich Papa gesponsert. Heute lautet Ihre wichtigste Frage: »Wie weit noch bis zur nächsten Toilette?« Und: »Können wir deine und meine Pinkelpausen bitte so koordinieren, dass wir nicht an jeder Raststätte halten müssen?!«

    Zu Terminen und Veranstaltungen kommen Sie neuerdings lieber zu früh als pünktlich. Beginnt in der Seniorenresidenz ein Vortrag um 19.00 Uhr, ist um 18.00 Uhr der Saal voll. Bei Volksmusik im Festzelt sitzen die ersten Alten schon, wenn die letzte Bierbank noch nicht steht. Opern-und Konzerthäuser, Stadthallen und Kirchen rechnen mit etwa 30 Minuten Rentner-Vorlauf. Nur Hiphop-Solisten und junge Rockbands können bis kurz vor Konzertbeginn Soundcheck und Lichtprobe machen – ihre Klientel unter 20 trödelt notorisch zu spät in die Location. Woher kommt diese alterstypische Sorge vor dem Zu-spät-sein? Es existieren nur Vermutungen: Sie sitzen im Auto, haben etwas vergessen und müssen zurück ins Haus. Bei Abfahrt Nr. 2 fällt Ihrem Mann ein, was er vergessen hat. Seither
plädieren Sie für frühen Aufbruch. Außerdem hassen Sie es, gehetzt und genervt irgendwo zu erscheinen und, etwa im Theater, ganze Stuhlreihen für sich aufstehen zu lassen. Und schließlich die simple Rechnung: Eine halbe Stunde Hinfahrt plus zwei Stunden Kinofilm ohne Pause – da lassen wir uns doch sicherheitshalber etwas Zeit, vorher noch kurz wohin zu gehen.

    Wissen Sie, was Essensreste nachts zwischen Ihren Zähnen anrichten?«, fragt der Zahnarzt. »Ich weiß es nicht«, sagt der Patient, »wir schlafen getrennt.« Selbst wenn es bei Ihnen noch nicht so weit ist: Das in Jahrzehnten entstandene (und teuer zusatzbezahlte) Mit- und Nebeneinander von Füllungen, Jackett-Kronen, Brücken und Implantaten hat im Mund eine alterstypische Folge: Hähnchenfleisch, Gulasch, Gewürzkörner, Kresse und Schnittlauch, am schlimmsten jedoch erkalteter Fondue-Käse, bleiben hinterhältig und hartnäckig zwischen den sogenannten Zähnen hängen. Nisten sich ein, krallen sich fest, kleben und haken und hängen so penetrant in den Spalten und Klüften, dass kein Zahnstocher mehr etwas ausrichten kann. Auch hinter vorgehaltener Hand nicht. Vorspeise und Hauptgang sind geschafft, Sie verschwinden mal kurz in den Waschraum der Toilette, fuhrwerken vor dem Spiegel mit der Zahnseide herum und – kommen mit blutendem Zahnfleisch wieder raus. Zum Dessert gibt es Apfelkuchen mit Mandelsplittern. Na danke schön! Was werden Sie tun? Sie lächeln nur noch mit geschlossenem Mund und versuchen es mit der Zunge. Die ausgebeulte Wange – ein untrügliches Erkennungszeichen älterer Menschen beim Nachtisch. Dass da im Verborgenen eine hyperaktive Fleischbürste ihre akrobatische Schwerstarbeit verrichtet,
kann manchmal sogar intellektuell wirken. Das geht so: Wenn Ihr Gegenüber einen Satz beendet hat, ziehen Sie staunend die Augenbrauen hoch, schauen nachdenklich ins Weite und befehlen Ihrem Höhlenbohrer im Mund einen abrupten Stopp in der Hamsterbacke. Sieht aus, als würden Sie gleich den ontologischen vom kausalen Gottesbeweis unterscheiden und die Grundthesen des Aristoteles gegen Immanuel Kant verteidigen. Ist in Wahrheit aber nur der Moment, wo Sie spüren: »Sie hat ihn!! Diesen elenden Mandelsplitterrest!«

    Sie werden neuerdings von Rührung und Sentimentalität überfallen. Bei der Taufe Ihrer Patentochter oder Enkelin ging’s ja noch. Aber jetzt, wenn Sie bei der Konfirmation eines süßen Teenagers eine Tischrede halten sollen?! Wieso steigt ihnen das Heulen ins Gesicht, woher dieses Zucken der Unterlippe, wie kriege ich den Kloß im Hals raus und Festigkeit in die Stimme rein? Meine-Güte-reiß-Dichdoch-zusammen! Dass ein Vater zwischen 50 und 65 mit Tränen in den Augen seine brautkleidgeschmückte Tochter durch den Mittelgang zum Traualtar führt, wo Mutter und Schwiegereltern, Omas und Opas in blumendekorierten Kirchenbänken längst die Taschentücher gezückt haben – geschenkt! Versteht jeder. Darf sein. Ist doch klar. Aber unvermittelt mit den Tränen kämpfen an einem werktägigen Vormittag in der Küche, nur weil NDR Kultur oder Klassik Radio die »Pathetique« von Beethoven spielt?! Die »Kinderszenen« von Robert Schumann oder »Thais« von Massenet mit Anne Sophie Mutter an der Violine? Der Vorstandsvorsitzende im dicken
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