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Altherrensommer

Altherrensommer

Titel: Altherrensommer
Autoren: Andreas Malessa
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nicht völlig fremd vor:

    Wenn Sie aus einem tiefen Sessel aufstehen, aus der Hocke hochkommen oder aus Ihrem Auto aussteigen, stöhnen Sie »Ah!« (Und wenn andere dabei sind, nehmen Sie sich vor, jetzt nicht »Ah« zu stöhnen.)

    Ihr Namensgedächtnis mag auch früher schon schlecht gewesen sein. Aber die Zeitspanne, bis«der Groschen fiel«, war kürzer. Jetzt fällt Ihnen vom Beginn bis zum Ende der zweistündigen Jubiläumsveranstaltung ums Verrecken nicht ein, wie diese Frau dort drüben, ja genau, die da in der zweiten Reihe, wie hieß die gleich, die hat mir doch damals ... Nichts. Null. Blackout. Spätabends, beim Sektmit-Smalltalk
im Foyer, könnte diese Bekannte aber auf Sie zukommen und von genau jenem »damals« plaudern wollen. Und übermorgen, völlig zusammenhanglos, wird Ihnen ihr Name wieder einfallen, plötzlich und glasklar. Wenn es niemand mehr braucht.

    Nicht nur Namen vergessen Sie jetzt häufiger, sondern auch, was Sie wem gesagt oder schon mal erzählt haben. Das führt im Normalfall bei den Zuhörenden zu geduldiggelangweiltem Lächeln oder artigem Lachen. (»Ein Gentleman ist jemand, der jeden Witz noch nie gehört hat.«) Schlimmstenfalls führt es zu furchtbaren Peinlichkeiten (»also mir gegenüber hat sie das aber ganz anders ...«), im besten Falle führt es zu mehr Ehrlichkeit. In jedem Fall aber bauen Sie ein kleines Frühwarnsystem ein, einen Brems-Impuls wie die Asphalt-Erhebungen in den Spielstraßen und 30er-Zonen der Wohnviertel: »Und da sagt doch dieser Taxifahrer zu mir ... oder hab ich Euch das schon erzählt?«

    Die Glitschigkeit einer Duschkabine – im Hallenbad, im Hotel, in der Ferienwohnung, bei Freunden, den Haltegriff über der Badewanne haben Sie ein halbes Leben lang nicht einmal wahrgenommen. Jetzt achten Sie drauf. Denn kurzes Stolpern kann lang anhaltende Rückenschmerzen bedeuten. Von Muskelzerrungen oder einem Bandscheibenvorfall ganz zu schweigen. Wer will schon als Humpelstilzchen zum Frühstück erscheinen? Überhaupt: Jede noch so kleine Verletzung – der Daumen in der Garagentür, das Schienbein an der Bettkante, die rasierklingenverletzte Halsfalte bei Herren und das entzündete Nagelbett bei Damen – alles schmerzt viel länger als früher. Alles heilt unglaublich langsam und bleibt danach monatelang sichtbar.

    Wenn Sie unbedacht und hastig etwas trinken, bei einem angeregten Tischgespräch zu schnell atmen, reden, kauen und sich plötzlich verschlucken – dann ist das nicht, wie in Kindertagen, mit zwei Klapsen auf den Rücken getan. Nein, Sie glauben zu ersticken. Sie werden puterrot, ihre Stimme versagt. Die Luftröhre ist wie zugeschnürt. Sie entschuldigen sich röchelnd, flüchten ins Badezimmer und sind erst nach zehn Minuten wieder soweit gesellschaftsfähig, dass Sie an die Tafel zurückkehren können. Dort haben inzwischen die anderen Gäste ihre eigenen Verschluckungserlebnisse mit Nuss-Schokolade, Krokantplätzchen, Pinienkernen, mit Rucola-Salat und scharfen Thaisuppen zum Besten gegeben. Alle haben vollstes Verständnis für Sie, aber ja doch! Trotzdem denken Sie: Warum ist das im Alter so ein Drama, verdammt nochmal?!

    Es war Ihnen doch jahrzehntelang schnurzpiep-egal, wo Sie im Großraumwagen eines Zuges Platz nahmen. Schülerhorden oder verliebte junge Pärchen merken ja nicht mal, dass sie überhaupt in einem öffentlichen Verkehrsmittel reisen. Sie aber – Sie achten seit ein paar Jahren darauf, dass es von der Tür her nicht zieht (Rücken!), dass Sie nicht am Fenster sitzen, wo die grelle Sonne flackert und flimmert (nervöse Augenrötung!) und dass Sie in Fahrtrichtung sitzen (leichte Kopfschmerzen!). Wenn nämlich der »Franken-Sachsen-Express« mit Tempo 180 und Neige-Technik von Nürnberg nach Dresden rast, reagiert Ihr Magen wie bei einer Achterbahnfahrt rückwärts.

    Wenn Ihre Lesebrille wieder mal, gottweißwo, liegengeblieben ist, können Sie sich die Speisekarte ja vom Kellner vorlesen oder zumindest in Auszügen zitieren lassen. (Was
sich für die Restaurantgäste an den Nachbartischen bisweilen anhört wie eine Theaterprobe zwischen Regisseur und Schauspieler: »Kann ich nochmal diese Stelle weiter vorne hören bitte? Ab Carpaccio etwa?«) Wenn Sie aber ohne Lesebrille am Bankschalter oder auf einer Behörde etwas unterschreiben sollen – dann müssen Sie dran glauben. Also dran glauben, dass alles seine Richtigkeit hat, was Sie da halbblind mit Ihrem Namenszug bestätigen.

    Wenn Sie in den finanziell klammen
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