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Alter schützt vor Scharfsinn nicht

Alter schützt vor Scharfsinn nicht

Titel: Alter schützt vor Scharfsinn nicht
Autoren: Agatha Christie
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schäbigen Band Der Gänseblümchenkranz.
    »Ach, das sollte ich mal wieder lesen«, sagte sie und seufzte. »Wenn ich an die vielen Jahre denke, die verstrichen sind, seit ich es nicht mehr in der Hand hatte. Was war es spannend, wenn man noch nicht wusste, ob Norman die Erlaubnis bekam, konfirmiert zu werden oder nicht. Und Ethel und – wie hieß der Ort noch? Coxwell oder so ähnlich – und dann Flora, die weltlich war. Ich möchte wissen, warum damals alles (weltlich) war. Was sind wir eigentlich heute? Sind wir weltlich oder nicht?«
    »Wie bitte, Madam?«
    »Ach, nichts«, sagte Tuppence und sah ihr treues Faktotum Albert an, der gerade unter der Tür aufgetaucht war.
    »Ich dachte, Sie wünschten etwas, Madam. Sie haben doch geklingelt, nicht wahr?«
    »Eigentlich nicht«, antwortete Tuppence. »Ich hab zufällig die Klingel erwischt, als ich auf den Stuhl kletterte, um ein Buch herauszunehmen.«
    »Kann ich etwas für Sie herunterholen?«
    »Das wäre nett. Ich falle immer vom Stuhl. Ein paar haben so wackelige Beine.«
    »Wünschen Sie ein bestimmtes Buch?«
    »Mit dem dritten Fach von oben bin ich noch nicht weit gekommen. Ich weiß nicht, was da für Bücher stehen.«
    Albert stieg auf einen Stuhl, klopfte die Bücher gegeneinander, um den Staub zu entfernen, und reichte sie der Reihe nach hinunter. Tuppence nahm sie mit Entzückensrufen in Empfang.
    »Nein, so was! Alle sind sie da! Wie viele hatte ich vergessen! Da sind Das Amulett und Der Psamayad und Die neuen Schatzsucher. Großartig! Nein, noch nicht hineinstellen, Albert. Die muss ich erst lesen. Na ja, ein oder zwei wenigstens. Was ist denn das? Lassen Sie sehen. Die rote Kokarde, eine historische Erzählung. Sehr spannend. Und hier ist auch Unter der roten Robe. So viele Bücher von Stanley Weyman. Natürlich habe ich sie erst gelesen, als ich zehn oder elf war. Es würde mich gar nicht wundern, wenn jetzt auch noch Der Gefangene von Zenda auftauchte.« Sie seufzte bei der Erinnerung glücklich auf. »Der Gefang e ne von Zenda war mein erster Liebesroman. Die Liebesgeschichte der Prinzessin Flavia. Der König von Ruritanien. Und Rudolph Rassendyll. So ein Name! Davon hat man nachts geträumt.«
    Albert reichte eine neue Auswahl hinunter.
    »Oh!«, rief Tuppence. »Die sind noch besser, noch älter. Ich muss die ältesten Bücher zusammenstellen. Mal sehen, was wir haben: Die Schatzinsel. Die habe ich mehrmals gelesen und zwei Filme darüber gesehen. Obwohl ich Filme über Bücher nicht mag; sie stimmen nicht. Aha, da ist auch Entführt. Ja, das habe ich sehr geliebt.«
    Albert reckte sich, kam aus dem Gleichgewicht, und Catriona fiel hinunter und hätte Tuppence beinahe getroffen.
    »Oh, entschuldigen Sie, Madam. Es tut mir sehr leid.«
    »Macht nichts«, sagte Tuppence. »Es ist nichts passiert. Catriona, ja. Sind noch mehr Geschichten von Stevenson da?«
    Albert reichte ihr die Bücher nun sehr viel vorsichtiger zu. Gleich darauf stieß Tuppence einen Freudenschrei aus.
    »Der schwarze Pfeil. Großartig! Der schwarze Pfeil! Eins meiner ersten Bücher, die ich besessen und gelesen habe. Sie kennen es vermutlich nicht, Albert. Ich meine, da waren Sie noch nicht geboren. Oder doch? Lassen Sie mich nachdenken. Ja, natürlich, es ging um das Bild an der Wand mit den Augen – echten Augen –, die durch die Augen auf dem Bild blickten. Man bekam solche Angst! Der schwarze Pfeil. Die Katze, die Ratte und Lovell, der Hund, regierten England unter dem Schwein. Das Schwein war natürlich Richard III. Heute werden andauernd Bücher darüber geschrieben, dass er gar kein Schurke gewesen ist. Das glaube ich nicht, ebenso wenig wie Shakespeare. Schließlich lässt er in seinem Stück Richard gleich am Anfang sagen: ›Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden.‹ Ach, ja. Der schwa r ze Pfeil!«
    »Wollen Sie noch mehr Bücher, Madam?«
    »Nein, danke, Albert. Ich glaube, jetzt bin ich müde.«
    »Ja, natürlich. Übrigens hat der Herr angerufen, er käme eine halbe Stunde später.«
    »Macht nichts«, sagte Tuppence.
    Sie setzte sich in einen Sessel, griff nach dem Schwarzen Pfeil, schlug ihn auf und versank darin.
    »Meine Güte«, sagte sie dann, »wie schön es ist. Ich habe tatsächlich so viel vergessen, dass ich es noch einmal lesen kann.«
    Die Stille senkte sich über sie. Albert kehrte in die Küche zurück. Die Zeit verstrich. In dem ziemlich schäbigen Sessel zusammengekauert, versuchte Tuppence, die Freuden ihrer Kindheit wiedererstehen zu
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