Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)

Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)

Titel: Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
Autoren: Claus Riemann
Vom Netzwerk:
dem Vermiedenen überwältigt. Bezeichnenderweise folgt die – unvermeidliche – Begegnung mit dem Schatten einer sehr idyllischen Situation: Gigi hat die Orgel in der Kirche gespielt und mit dem Herrn Pfarrer das ein oder andere Gläschen getrunken. Daraufhin »gerät« er auf den Friedhof, er sucht diese Herausforderung also nicht bewusst, genauso wenig wie er seinem Vater bewusst gegenübertritt, ihm in die Augen sieht. Bei der Alternative »Flüchten oder Standhalten« wählt er die erste Möglichkeit.
     
    An diesem Punkt taucht natürlich die Frage auf: Was hätte Gigi denn tun sollen? Mit diesem Vater reden? Der hätte doch nie zugehört und verstanden! Vielleicht stimmt es, dass wir manchmal Väter und Mütter haben, mit denen nicht zu reden ist, die ihr Herz verschlossen haben und für uns unerreichbar sind, wie sehr wir uns auch bemühen mögen. Das befreit uns aber nicht von der Aufgabe, uns mit dem psychischen Erbe dieser Eltern in uns selbst zu beschäftigen.
     
    Ich habe früher in Gruppen – halb spielerisch, halb ernst – einmal folgende Übung gemacht: Denk an deinen Vater, deine Mutter und schreib ganz schnell drei positive Eigenschaften deines Vaters, so wie du ihn erlebt hast, auf, drei positive Eigenschaften deiner Mutter, drei negative Eigenschaften des Vaters und drei negative Eigenschaften der Mutter. Dann lies dein Blatt vor und beginne jeden Satz mit: »Ich bin…« und nicht: »Mein Vater ist …« oder »Meine Mutter ist …« Wenn man genau hinschaut, stimmen diese Sätze allesamt. Eine Kinderweisheit sagt ja: Was man (über andere) sagt, das ist man selbst! Was man an den Eltern besonders stark wahrnimmt – sei es im positiven wie im negativen Sinne – ist immer auch ein Spiegel für etwas, das in uns existiert. Wir entkommen den Eltern nicht. Die inneren Jahresringe des Lebensbaumes sind unveränderbar, andererseits können wir uns darum bemühen, dass die folgenden Jahresringe immer mehr unsere eigenen werden, immer mehr von unserem inneren König, unserer inneren Königin bestimmt werden.
     
    Natürlich könnte man in dieser Geschichte auch den kollektiven Aspekt betrachten. Wir in Deutschland etwa haben eine Vergangenheit, die durchaus an Pietro erinnert – Pietro, Petrus, der Fels; sicher ist dieser Name nicht zufällig gewählt. Wenn wir zum Beispiel an das Preußentum denken, mit seiner Strenge, Disziplin und gnadenlosen Härte gegen sich und andere, erinnert das sehr an Pietros Energie. Und wie auch in diesem Märchen kann diese Einseitigkeit den Gegenpol auf den Plan rufen, eben diese »Gigi-Haltung« der tanzenden Hippies, die keine Lust haben auf die Strenge oder Ernsthaftigkeit der »Preußenväter«. Die Schattenseite des »kollektiven Gigi« heute ist die Oberflächlichkeit der Spaßgesellschaft. Doch wenn wir ein Pietro-Erbe haben, in welcher Form auch immer – kollektiv wie individuell – dann will dieser Pietro auch eingeladen werden ins Leben als ein Teil unserer selbst. Deshalb müssen wir ja nicht alles genauso machen wie er. Strenge muss ja nicht von vornherein rigide und herzlos sein, sie kann auch dem Leben dienen. Die liebevolle Gnadenlosigkeit eines Zen-Meisters wäre solch ein positiver Aspekt der Pietro-Haltung, oder einfach Geradlinigkeit, Ehrlichkeit und Klarheit: »Wahr reden, wahr handeln«.
     
    In der Arbeit mit diesem Märchen passiert häufig Folgendes: Zunächst wird Pietro als der große Unsympath empfunden, als Hassfigur. Er erinnert natürlich auch an strenge Eltern, die wir vielleicht dereinst hatten, unter denen wir gelitten haben. Gigi wird zunächst als der Gute, als Opfer des bösen Vaters erlebt. Je tiefer man aber in diese Geschichte eintaucht, desto fragwürdiger wird auch die Haltung von Gigi. Gerade von Frauen wird er oft als eine Art Nicht-Mann wahrgenommen, irgendwie nett, aber konturlos. Und das Wort »nett« ist ja nicht gerade ein Kompliment. Da fehlt eben die Energie des schwarzen Hundes.
     
    Der schwarze Hund ist ein Bild für dunkle Männlichkeit. Eines der Attribute des Kriegsgottes Ares ist der Wolfshund. Die kriegerische Energie des Wolfshundes ist bei Gigi nicht zu spüren, sie fehlt ihm zur vollständigen Männlichkeit. Wenn »Wolfsenergie« lange vermieden und ausgesperrt wird, wird sie oft destruktiv und so machtvoll, dass man von ihr überwältigt wird. Dann läuft der freundliche, unauffällige Mensch, der dreißig Jahre lang mit niemandem Streit hat, auf einmal Amok. Er wird überwältigt von der Energie des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher