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Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil

Titel: Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
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einfach nicht zugetraut!
     
    Die Einsicht in den wahren Sachverhalt bedeutete für alle eine Erleichterung. Jetzt gab es für das Chaos der zurückliegenden Jahre eine Erklärung, die wir akzeptieren konnten, wir fühlten uns nicht mehr so am Boden zerstört. Nur die Einsicht, dass wir viel zu viel Zeit damit vergeudet hatten, gegen ein Phantom anzukämpfen, war bitter – Zeit, die wir tausendmal sinnvoller hätten nutzen sollen. Wenn wir klüger, aufmerksamer und interessierter gewesen wären,hätten wir nicht nur dem Vater, sondern auch uns selber vieles erspart, und vor allem hätten wir besser auf ihn aufpassen und noch rasch einige Fragen stellen können.
     
    Die Anfänge der Krankheit waren eine schreckliche Zeit, ein vollkommener Fehlschlag. Außerdem waren sie die Zeit der großen Verluste.
    Das betrifft sowohl das biographische Gedächtnis des Vaters als auch das konkrete Verschwinden von Dingen, die im Leben des Vaters wichtig gewesen waren. Sein Fahrrad aus den fünfziger Jahren, Dreigang, ein Lenker mit Schwung, ein lederner Sattel mit quietschender Federung. Jahrzehntelang war der Vater auf diesem Fahrrad auch bei Schnee und Eis zur Arbeit im Gemeindeamt gefahren, wo er im Alter von sechsundzwanzig Jahren als Gemeindeschreiber begonnen hatte – verloren. Das Brustbild, unmittelbar nach dem Krieg aufgenommen, ein Jugendlicher mit nur wenig mehr als vierzig Kilogramm – verloren. Mein Vater hatte das Foto fast sechzig Jahre lang in seiner Geldtasche mit sich herumgetragen, gemeinsam mit einem Foto seiner Mutter. Dinge, an denen sein Herz gehangen hatte.
    Einer Freundin, Adrian, erzählte ich von dem Foto und davon, wie sehr es mich beeindrucke. Ich beschrieb es, mein Vater, gerade neunzehn geworden, wenige Tage nach der Entlassung aus einem russischen Lazarett. Dort hatte er eine Ruhrerkrankung überstanden, mehr durch Zufall als durch Pflege, wochenlang am Rand des Grabes, inmitten von unvorstellbarem Elend. Dieses Foto hatte er gernehergezeigt, ganz kurze Haare, sehr markante Gesichtszüge, etwas Besonderes im Ausdruck, schwer zu fassen, von einer Klarheit und gleichzeitigen Erschrockenheit in den dunkel blitzenden Augen, die anziehend wirkten. Kein Foto, bei dem man sich darüber lustig machte, dass jemand es statt eines Fotos von der Frau und den Kindern in der Geldtasche trug.
    Als ich nach Wolfurt aufbrach, ermahnte mich Adrian, ich solle eine Kopie machen lassen, sie wundere sich, dass ich das nicht längst getan hatte. Das war im Jahr 2004. Von Berlin kommend, traf ich am Nachmittag zu Hause ein, und da mein Vater wie praktisch jeden Tag während dieser Zeit bei Peter und Ursula im Garten saß und seinen Enkelinnen beim Spielen zusah, klopfte ich alle seine Jacken und Hosen ab, durchwühlte die Schubladen und Schränke, ganz wie vor Jahrzehnten, wenn ich als Kind im Haus herumgeschnüffelt hatte. Diesmal schnüffelte ich erfolglos. Ich rief Helga an, um zu fragen, ob sie etwas über den Verbleib von Papas Brieftasche wisse. Sie meinte, die gebe es schon seit Jahren nicht mehr, die habe er verloren. Ich weiß noch, wie enttäuscht ich war, wie zornig, zornig über mich, zornig über uns alle, weil wir nicht rechtzeitig eingegriffen hatten.
    Am Abend sprach ich den Vater auf das Foto an. Er brachte eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte auf, dass er in Ägypten gewesen sei und in Griechenland, wo ihm seine Hosen gestohlen worden seien.
    »Wie? Was? Wo?«, fragte ich erschüttert, denn mir war schlagartig klar, dass nicht nur das Foto auf einer Schutthaldegelandet war, sondern auch das Wissen, das mein Vater über seine Vergangenheit gehabt hatte.
    »Papa, du willst in Ägypten gewesen sein?«
    »Natürlich nicht freiwillig, sondern im Rahmen der Kinderlandverschickung.«
    »Und wie hat es dir dort gefallen?«, fragte ich lahm.
    »Es war langweilig«, gab er achselzuckend zur Antwort. »Ich habe dort nichts gesehen und nichts erlebt. Ich war dort als Nichtskönner, Nichtstuer und Nichtswisser.«

 
    Wie war deine Kindheit, Papa?
     
    Mhm. Gut. Harmlos. Was wir hatten, war alles eher primitiv, sowohl in der Art, der Menge als auch in der Wirkung.
     
    Denkst du oft daran zurück?
     
    Ich kann mich an manches erinnern, aber alles weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich habe mich abgesetzt von dem allem.
     
    Was fällt dir zu deinem Vater ein?
     
    Im Augenblick nichts.
     
    Aber einen Vater wirst du doch gehabt haben?
     
    Ja, klar.
     
    Er war wohl keine sonderlich wichtige Person in deinem
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