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Als schliefe sie

Als schliefe sie

Titel: Als schliefe sie
Autoren: Elias Khoury
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feinem Pinselstrich gezeichnete Nase. Sie trug Shorts und an den Füßen keine Schuhe. Die Augen waren keineswegs honigfarben, wie die Menschen am Tag zu sehen meinten, sondern grün, umgeben von Weiß mit einem kaum wahrnehmbaren Stich ins Hellblaue.
    Milia liebte die Nacht. Liebte es, durch die Gefilde der Nacht zu streichen. Mit weit geöffneten Augen im Bett liegend, gab sie sich der Nacht hin. Wenn die Dunkelheit am dichtesten war, schloss sie die Augen und tauchte in die Welt der Träume. Am Morgen wieder erwacht, wischte sie die Träume nicht fort. Nein, sie ließ die Spuren verlaufener Tinte ihre Augen umspielen, um jederzeit wieder in jene andere Welt hineinfallen zu können. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, dann verblassten im Nu Stimmen und Licht, und sie konnte ungehindert entschweben. Dorthin, wo sie alles sah. Wo sie Geheimnisse enthüllte.
    Milia hat keinem Menschen je verraten, dass sie ihre Träume der Dunkelheit anvertraute. Dass sie ein tiefes Loch in die Dunkelheit gegraben hatte, in dem sie all ihre Träume aufbewahrte. Und dass sie bei Bedarf jenen geheimen Ort aufsuchte und diejenigen Traumsequenzen, nach denen ihr der Sinn stand, zutage förderte, um sie erneut zu träumen.
    Dieser eine Traum jedoch entsprang dem Nichts. In der Traumgrube gab es solch eine Milia nicht. Die Nacht-Milia war eine andere als die Tag-Milia. Wie kam es also, dass die Bilder des Tages sich in den Traum eingeschlichen hatten? Lag es daran, dass sie geheiratet hatte? Wirkte sich die Ehe etwa so aus?
    Milia fühlt sich dem Ersticken nahe. Sie zittert vor Kälte. Die Nacht wird zum Brunnen. Sie kauert auf dem Grund des Brunnens. Der Fahrer atmet immer lauter. Sein Atem streift ihren Hals. Er keucht wie schmerzgequält. Sie will ihn fragen, was mit ihm sei. Aber sie hat keine Stimme mehr. Sie will den Kopf vom Kissen heben. Aber der Kopf ist entsetzlich schwer. Unvermittelt steigt der Fahrer aus dem Wagen. Dann ist er verschwunden. Mansûr ist auch verschwunden. Nackt und alleingelassen liegt die Frau im Bett. Um sie herum Nebel und rieselnder Schnee. Sie will den linken Fuß heben. Aber er ist vor Kälte starr. Sie spürt, dass sie aus dem Bett fällt. Ein heftiger Schmerz dringt in ihren Schoß. Ein Messer sticht auf sie ein. Blut. Sie schreit. Will schreien, dass der Fahrer sie vergewaltigt. Aber sie hat keine Stimme mehr. Ihr Mund ist voll Watte.
    Allein in Dunkelheit und Kälte. Milia will die Augen öffnen und aus dem Traum heraustreten. In dem Moment sieht sie ein weißes Gesicht mit weißen Flügeln. Sie greift mit der rechten Hand danach, Federn bleiben an ihren Fingern haften. Sie schreit um Hilfe. Er hört sie nicht. Sie möchte nach Hause, sie hat genug von der Ehe, will sie sagen. Aber sie sagt es nicht. Das geflügelte Gesicht kreist über dem Auto, über dem Tal, über den beiden Männern. Es weht davon, verliert Federn. Weiße Federn schweben wie Schneeflocken im schwachen Scheinwerferlicht zu Boden.
    Sie wolle die Flitterwochen nicht in Schtûra verbringen, sagte sie. In Dahr al-Baidar schneie es. Und es sei eiskalt. Der Aufenthalt im Hotel Masâbki sei völlig unnötig. Und die Flitterwochen auch, sagte sie. »Lass uns zwei Tage bei meiner Familie in Beirut bleiben und dann nach Nazareth fahren.«
    »Es ist tiefster Winter«, sagte ihre Mutter. »Im Winter verbringt dort kein Mensch seine Flitterwochen. Kommt doch im Sommer wieder, dann könnt ihr dort eure Flitterwochen verbringen.«
    Die Nonne Mîlâna riet, bei dieser Kälte besser nicht nach Schtûra zu fahren. »Es ist zwar nicht gefährlich. Aber ein derart unsinniges Abenteuer sollte man lieber aufschieben.«
    »Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, entschied Mansûr. Er bestand auf der Fahrt nach Schtûra. »Seine Flitterwochen muss man einfach im Masâbki-Hotel verbringen!«
    Mûsa runzelte die Stirn.
    »Dein Mann will unbedingt nach Schtûra fahren. Dann soll er es auch. Also tu ihm den Gefallen und lass dich drauf ein. Wird schon gut gehen.«
    Der amerikanische Wagen fuhr vor. Milia im langen Brautkleid nahm neben Mansûr auf der Rückbank Platz. Jubeltriller gellten. Milia konnte nur mit Mühe ihre Mutter verstehen, die ihr durch das Fenster noch schnell ein paar Abschiedsworte und gute Ratschläge von Frau zu Frau ins Ohr flüsterte. Mûsa trat ans Auto und warf dem Brautpaar zwei Mäntel zu. Seinen olivgrünen und den braunen der Mutter. Sekundenlang schaute er Milia in die Augen und wandte sich dann Mansûr zu.
    »Meinen
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