Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als könnt' ich fliegen

Als könnt' ich fliegen

Titel: Als könnt' ich fliegen
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
behauptete er. In letzter Zeit war er kaum von seinen Platten wegzukriegen.
    Ich war sicher, das hing mit seiner neuen Freundin zusammen: Marlies. Vielleicht hatten sie Ärger miteinander, oder sie hatte Schluss gemacht. Ich hatte sie schon über eine Woche nicht gesehen.
    Ich fand Marlies nicht besonders toll, aber ich hatte auch nichts gegen sie. Ich bekam sie nur selten zu Gesicht. Bisher war ich allerdings davon ausgegangen, dass sie meinen Vater wirklich gern hatte. Dass er sie heiß und innig liebte, wusste ich. Seine Augen leuchteten, wenn sie in der Nähe war.
    Die beiden waren erst seit einem knappen halben Jahr zusammen. Einmal hatte er zu mir gesagt, dass sie ihn sehr an meine Mutter erinnere. Meine Mutter gab es nicht mehr. Jedenfalls nicht für mich. Aber darüber rede ich nicht gerne.
    Als ich Marlies zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte, fragte ich meinen Vater nach ihr.
    »Sie ist auf Jamaika«, sagte er. Er saß zwischen drei Plattenstapeln auf dem Teppich. Es spielte Around Midnight mit Dexter Gordon und Charlie Parker, einem längst verstorbenen Saxofonisten. Die Platte knackte nur ein bisschen, aber die Musik war nicht meine Richtung. Dass Charlie Parker technisch einsame Spitze war, konnte ich trotzdem hören.
    »Allein?« Ich ließ mich aufs Sofa fallen.
    »Mit Ilka«, sagte er, während er die Platten umschichtete. Ilka war ihre Tochter, dreizehn Jahre alt, die totale Zicke, wenn auch nicht gerade hässlich.
    »Seid ihr … ich meine, habt ihr …«, stammelte ich. Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte.
    Mein Vater grinste. Er ließ mich noch eine Weile zappeln.
    »Nein«, sagte er schließlich, »wir haben uns nicht getrennt.« Sein Grinsen wurde zum Lächeln. »Ganz im Gegenteil.«
    »Wollt ihr vielleicht heiraten?«, fragte ich. Das war ein Scherz. Mein Vater und Heiraten, das passte nicht. Er war nicht mal mit meiner Mutter verheiratet gewesen.
    »Sie hat mich gefragt«, eröffnete er, »ob wir zusammenziehen wollen.«
    Ich blieb ganz locker: Zusammenziehen war fast wie Heiraten und passte genauso wenig. Die einzige Frau, mit der er jemals zusammengelebt hatte, war meine Mutter gewesen. Und das war gründlich in die Hose gegangen. Es war elf Jahre her, dass sie sich urplötzlich in Luft aufgelöst hatte. Mittlerweile konnten mein Vater und ich uns nichts Besseres vorstellen als dieses Leben miteinander, in dem uns niemand zwang, die Musik leiser zu drehen oder die Zahnpastatube zuzuschrauben.
    Aber als ich noch einmal in das nachdenkliche Gesicht meines Vaters schaute, verdrängten Zweifel meinen Optimismus. Er hatte jetzt alle Schallplatten aus der Hand gelegt. Meine Gedanken flogen zurück zu jener verregneten Nacht, in der wir uns in der Küche getroffen hatten. Plötzlich wusste ich: Was hier geredet wurde, hing mit dieser Nacht zusammen.
    »Und?«, fragte ich skeptisch. »Wie war deine Antwort?«
    »Dass ich darüber nachdenken muss«, sagte er. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Doch in meinem Körper spannte sich jeder Muskel wie die Sehne des Bogens vor dem Abschuss des Pfeils.
    »Aber inzwischen hast du ihr gesagt, dass das nicht läuft … Oder?«
    Meine Zweifel waren bereit, jeden Augenblick in Verzweiflung auszuarten.
    »Noch hab ich ihr nicht geantwortet«, versuchte er, mich zu beschwichtigen. »Sie ist ja auf Jamaika.«
    »Wo es keine Telefone gibt …«
    »So was kann man doch nicht am Telefon besprechen«, meinte er. Dann plötzlich blickte er mich mit gefährlich ernster Miene an.
    Ich ahnte nichts Gutes.
    »Spätestens morgen«, sagte er schließlich, »hätte ich es dir sowieso erzählt. Ich hab mich entschlossen …«
    »Ja?«
    »Marlies wird bei uns einziehen.« Da standen die Worte: in der Luft zwar, aber unumstößlich wie eine Mauer. »Natürlich mit Ilka.«
    Mein Pfeil sauste direkt von der Sehne. Ich schnellte hoch und blieb wie elektrisiert im Raum stehen.
    »Seit wann besprechen wir so wichtige Sachen nicht mehr?«, fragte ich. Meine Stimme war erstaunlich leise. Dann rannte ich aus dem Zimmer. Die Tür knallte hinter mir ins Schloss.
    Es war später Sonntagnachmittag. Als Björn und ich im Shark eintrudelten, war dort kaum was los. Draußen war es total heiß. Die meisten Leute wälzten sich wahrscheinlich am Strand herum.
    Überraschenderweise stand hinter der Theke nicht Phil, sondern … Nadine. Ich hatte sie am letzten Wochenende nicht besucht, wie sie es vorgeschlagen hatte. Irgendwas war dazwischengekommen. Ich wusste nicht mehr, was.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher