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Als könnt' ich fliegen

Als könnt' ich fliegen

Titel: Als könnt' ich fliegen
Autoren: Ravensburger
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Licht anknipste, fuhr ich erschrocken zusammen. Da saß mein Vater und schaute aus dem Fenster, einen Becher dampfender Milch in der Hand. Seit meinem fünften Lebensjahr wohnte ich mit ihm allein.
    »Was machst du denn hier im Dunkeln?«, fragte ich.
    Er sagte, er schaue in den Garten.
    »Da kann man doch gar nichts erkennen«, behauptete ich.
    »Aber klar«, erwiderte er. »Wenn die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann man fast alles erkennen. Zuerst nur ein paar Schattierungen, aber dann schälen sich die Konturen der Dinge immer klarer heraus.« Ich hörte , dass er lächelte. »Und was machst du hier?«
    »Kann nicht schlafen.« Ich holte mir ebenfalls einen Becher Milch, knipste das Licht wieder aus und setzte mich neben ihn. Für mich klebte vor dem Fenster nichts als schwarze Nacht.
    »Ich hab auch noch kein Auge zugemacht«, sagte er und schlürfte an seiner Milch.
    »Probleme?«, fragte ich. Eigentlich war eher er auf das Stellen solcher Fragen spezialisiert: An ihm war ein Psychologe verloren gegangen. Tatsächlich arbeitete er als Vermessungsingenieur, war aber trotzdem ein exzellenter Zuhörer.
    »Ich grüble nur so ein bisschen herum«, sagte er. »Das ist alles.«
    Mir schien nicht, dass das wirklich stimmte. Ganz langsam löste sich draußen auch für mich die Dunkelheit auf und ich erkannte die ersten Baumkonturen. Es war absolut still, drinnen und draußen. Mein Traum fiel mir wieder ein. Als erstes Bild daraus erschien das Gesicht des Mädchens aus der Drogerie. Ich sah es ganz deutlich. Das Bild von Nadine dagegen war merkwürdig blass.
    »Hast du eigentlich eine Freundin?«, fragte mein Vater. Das hatte er mich bisher noch nie gefragt. Hin und wieder konnte er sogar Gedanken lesen.
    »Vielleicht«, sagte ich ausweichend. »Muss mal sehen, was daraus wird.«
    »Erkennst du jetzt auch die Bäume?«, fragte er und nippte wieder an seiner Milch. Er war auch gut in Sachen Themenwechsel. Ich nickte und war trotz der Dunkelheit sicher, dass er es sah.
    »Manchmal muss man die Dinge nur lange genug betrachten«, sagte er, »um sie besser erkennen zu können, oder?«
    Ich wusste nicht, ob er von mir sprach, von sich selbst oder vielleicht sogar von uns beiden.
    »Ich hab in den nächsten Tagen eine wichtige Entscheidung zu treffen«, erklärte er. »Noch weiß ich nicht, was richtig ist.« Er stand auf und drückte leicht seine Hand auf meine Schulter.
    »Worum geht’s?«, fragte ich.
    »Sobald ich selbst klarer sehe«, antwortete er, »sag ich es dir. Als Erstem. Okay?«
    »Okay.«
    »Ich geh ins Bett. Solltest du auch tun.«
    »Ich trink noch aus.«
    Er öffnete die Tür. »Gute Nacht.«
    Ich hatte das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen: »Sobald ich in Sachen Freundin klarer sehe, bist du der Erste, der es erfährt.«
    Wieder spürte ich sein Lächeln. Dann fiel die Küchentür ins Schloss. Draußen ließ der Regen etwas nach. Vielleicht würde der nächste Tag doch wieder schön werden.

3
    11. August, Sonntag
    Heute hab ich die bisher tollste Stelle am Meer entdeckt, ein bisschen abseits vom Hauptstrand. Da kann man sich zwischen die Dünen legen, stundenlang in den Himmel gucken und keiner sieht einen. Dabei hört man immerzu das Meer rauschen – jedenfalls bei Flut – und die Möwen schreien. Den ganzen Tag schien die Sonne, ich bin richtig braun geworden.
    Sven nervt. Er besteht drauf, dass ich mitkomme in diese komische Haikneipe. Er denkt mal wieder, dass ich Angst habe, unter Leute zu gehen, wegen meinem Bein, was aber ein Riesenquatsch ist. Natürlich spricht Sven es nicht aus, aber er denkt es, das weiß ich genau. Ich sehe es in seinem Gesicht, und ich spüre es schon, wenn er den Raum betritt. Gerade jetzt macht er die Tür auf und kündigt an, dass er in fünf Minuten losfährt. Er geht mir irre auf den Senkel!
    Mein Vater besaß die größte Schallplattensammlung Norddeutschlands. Keine CD s, nur die großen schwarzen Scheiben von früher, mehrere Tausend Stück. Ein paarmal war er schon in der Zeitung damit. Seine Sammlung umfasste Musik aus den Fünfzigern bis in die Neunziger. Er mochte fast alles, während ich die Musik aus den Siebzigern am coolsten fand.
    Wenn mein Vater abschalten oder nachdenken wollte, zog er sich zu seinen Platten zurück. Er sortierte oder archivierte sie neu, betrachtete stundenlang die Cover und hörte dabei natürlich Musik. Er nannte das seine Entdeckungsreise in die Vergangenheit. Danach fühle er sich der Gegenwart besser gewachsen,
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