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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern
Autoren: Kirsten Winkelmann
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großen, verwunderten Augen zu ihm in die Höhe starrte. Gleichzeitig ließen ihre Bewegungen nach. „Karen?“, fragte sie und wirkte dabei wie ein Kind, das nach seiner Mutter rief. Arvin witterte eine Chance. „Karen kommt gleich“, sagte er und hielt Livias Blick wie ein Befehlshaber gefangen.
    Seltsamerweise schien das zu helfen. Livia hörte auf sich zu bewegen und hing auf einmal da wie eine Maus in den Klauen des Bussards.
    Ohne den Blick von ihr zu nehmen, nutzte Arvin die Gelegenheit und schob sich Millimeter um Millimeter rückwärts. Dabei war seine ganze Konzentration allein auf sein Gleichgewicht gerichtet. Nur eine einzige falsche Bewegung – das wusste er – und er landete samt dieser Frau im Jenseits.
    Aus Millimetern wurden Zentimeter.
    „Ich ziehe dich jetzt hoch“, verkündigte Arvin, als er wieder Kontrolle über seinen Körper erlangt hatte. Mittlerweile ragten nur noch Kopf und Schultern über den Rand hinaus.
    Livia nickte. „Hoch“, wiederholte sie. „Zu Karen.“
    „Ja“, seufzte Arvin, „zu Karen.“

Kapitel 6
    Als Arvin an diesem Abend in sein Haus zurückkehrte, kam es ihm noch kälter und leerer vor als sonst.
    Geraume Zeit stand er einfach nur im dunklen Flur und starrte vor sich hin. Dann schlich er wie ein geprügelter Hund ins Wohnzimmer, zündete zuerst den Kamin an und nahm dann einen kleinen Teddybären vom Kaminsims. „Na du“, flüsterte er und drehte den Teddy auf den Bauch, sodass er ein jammerndes Geräusch von sich gab. „Genauso fühle ich mich auch.“
    Er behielt den Teddy in der Hand und ließ sich in Mantel und Schuhen nur wenige Zentimeter vor dem brennenden Kamin nieder.
    Es dauerte lange, bis das Feuer richtig in Gang kam. Aber dann erfüllte der kräftige, würzige Geruch von verbrennendem Holz den Raum. Und es tat gut, die Flammen zu betrachten. Sie wirkten so lebendig, so leidenschaftlich, so anders, als er sich selbst fühlte.
    Es war nicht leicht, die Ereignisse des Tages zu verdauen. Er spürte immer noch Livias Gewicht in seinem rechten Arm. Und es kam ihm so vor, als reiße dieses Gewicht auch an seinem Herzen … als würde er selbst davon zerrissen!
    Er schloss die Augen. Weder das Knistern des Feuers noch der Teddy auf seinem Schoß vermochte ihn zu trösten. Mittlerweile war ihm warm. Aber auch die schwere Wärme schien nicht die Fähigkeit zu besitzen, den Eisklotz in seiner Brust zu zerschmelzen.
    Er hatte das Bedürfnis zu weinen, aber auch das wollte nicht gelingen. Im Grunde fühlte er sich wie gelähmt, wie festgewachsen an seinem Standort. Als er zu schwitzen begann, fehlte ihm die Kraft, seine Position zu wechseln.
    Erst als er Schritte hörte, wandte er müde den Kopf.
    „Arvin?“, hörte er die Stimme seiner Schwester rufen. Sie besaß von jeher einen Schlüssel und schien hereingekommen zu sein, ohne zu klingeln.
    Er wollte, dass sie wieder ging. Aber schon wenig später wurde die Tür zum Wohnzimmer geöffnet.
    „Arvin? … Oh!“ Karen klang erstaunt. „Ich wusste nicht … Ich meine … alles war so duster, sonst hätte ich ja geklingelt … Was machst du denn hier im Dunkeln?“
    Arvin räusperte sich und fand endlich die Kraft, sich zu erheben. „Ich wollte nur … Es war so kalt hier drinnen.“ Schnell setzte er den Teddy aufs Kaminsims zurück. Als Karen das Licht anschaltete, hob er schützend die Hände vors Gesicht.
    „Du hast ja noch deinen Mantel an!“, beschwerte sich Karen. Und dann seufzte sie tief. „Man kann dich wirklich keine fünf Minuten allein lassen, weißt du das?“
    Arvin nahm die Hände wieder herunter. Dann sagte er trotzig: „Ich war auch nie dafür, dass mich alle allein lassen.“
    Karen seufzte erneut. „Apropos. Wie war’s bei Livia?“
    Arvin antwortete nicht gleich. Er war sich nicht sicher, ob er seiner Schwester die Wahrheit sagen sollte. Sie war ein unglaublich fürsorglicher Typ. Sie würde ausrasten … Andererseits … wie sollte er ihr diese Kleinigkeit verheimlichen? Die ganze Stadt würde morgen davon sprechen! „Es war … wie soll ich sagen … Willst du dich nicht erst einmal setzen?“
    „Sag nicht, du hast gekniffen!“, brauste Karen auf.
    Arvin knöpfte langsam seinen dunklen Wollmantel auf. Allmählich hatten sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt. „Du bist nicht besser als ich, Schwesterchen.“ Er deutete auf Karens rote Windjacke. „Die sieht noch wärmer aus als mein Mantel.“
    „Ich wollte auch nicht lange bleiben“, entgegnete Karen. „Ich
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