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Allmen und die Dahlien (German Edition)

Allmen und die Dahlien (German Edition)

Titel: Allmen und die Dahlien (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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schenkte Allmen ein und zog sich zurück.
    Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Frau Talfeld sprang auf. Allmen erhob sich und knöpfte das Jackett zu.
    Dalia Gutbauer betrat den Raum. Sie war eine sehr kleine Frau und stützte sich auf ein Gehgestell, das wohl eigens für ihre Körpergröße angefertigt worden war. Sie hob es bei jedem Schritt ruckartig an und ließ es geräuschvoll wieder fallen. Dicht hinter ihr folgte konzentriert eine weißgekleidete Pflegerin, die Hände etwas vorgestreckt, um ihren Schützling jederzeit auffangen zu können.
    Die alte Frau beachtete Allmen erst, als die Pflegerin und Frau Talfeld ihr behutsam in den Polstersessel geholfen hatten. Als sie saß, sagte sie mit einer für eine so zerbrechliche alte Dame überraschend tiefen Stimme: »Sie haben wieder geraucht, Cheryl.«
    »Ihr Näschen möchte ich haben, Frau Gutbauer«, antwortete Frau Talfeld in scherzhaftem Ton.
    »Da braucht es keinen besonderen Geruchssinn. Sie stinken gegen den Wind.« Jetzt sah sie zu Allmen empor. »So setzen Sie sich doch, ich habe einen steifen Nacken.«
    Allmen gehorchte, und sie musterten sich gegenseitig.
    Dalia Gutbauer hatte einen dichten Wusch weißer Haare, der so frisiert war, dass er einen großen Teil des zerknitterten Gesichts verbarg. Sie trug eine geschwungene diamantenbesetzte Brille, die ihre tiefblauen Augen etwas vergrößerte. Die faltigen Lippen waren im Scharlachrot ihrer Nägel geschminkt. Sie sahen aus wie frisch aus dem Nagelstudio und bildeten einen scharfen Kontrast zu den gekrümmten, fleckigen Händen. Sie trug ein Chanel-Kostüm aus hellgrauem Tweed mit schwarzer Bordüre und eine schwarze Seidenbluse mit Schlingkragen.
    »Sind Sie ein ehrlicher Mann?«, fragte sie.
    »Nach Möglichkeit.«
    »Kommt es oft vor, dass es nicht möglich ist?«
    »Doch, schon. Berufsbedingt.«
    Sie nickte verständnisvoll. »Aber wenn auch nicht immer ehrlich, so doch stets gesetzestreu?«
    Allmens Intuition, auf die er ein wenig stolz war, gab ihm die folgende Antwort ein: »Stets. Es sei denn, es würde unserer Klientel zum Nachteil gereichen.«
    Dalia Gutbauer wechselte einen Blick mit Frau Talfeld und wandte sich an die Pflegerin: »Ich rufe Sie dann, Schwester.«
    Die Pflegerin verließ den Raum.
    Frau Gutbauer richtete sich wieder an Allmen. Es schien ihm, als habe er die Prüfung bestanden. »Sagt Ihnen der Name Henri Fantin-Latour etwas?«
    Allmen kannte ihn. Es war ein Maler, der mitten im Impressionismus realistische Blumenbilder und Porträts gemalt hatte, die heute auf dem Kunstmarkt hohe Preise erzielten. Vor allem die Blumenbilder waren zauberhaft. Wenn auch nicht ganz nach seinem Geschmack. Er nickte.
    »Es handelt sich um ein Werk von ihm. Bitte, Cheryl.«
    Frau Talfeld zog ein Mäppchen aus der Handtasche, entnahm diesem ein Foto und reichte es Allmen.
    Es zeigte einen Strauß Dahlien in verschiedenen Rot- und Weißtönen in einer schlichten, weißen, taillierten Vase. Warmes Licht fiel auf ein paar davon, andere lagen im Schatten, dahinter waren im geheimnisvollen Dunkel weitere Blüten zu erahnen.
    Das Bild kam Allmen bekannt vor. »Könnte es sein, dass ich es kenne?«
    »Fantin-Latour hat viele Dahlien gemalt«, antwortete Dalia Gutbauer. »Aber das sind seine schönsten.«
    Jetzt erst fiel Allmen das Detail mit dem Namen auf. Dalia, Dahlien. Er zog ein ledergebundenes Notizbuch mit Goldschnitt und den goldenen Initialen J. F. v. A. aus dem Jackett – er eröffnete für jeden Fall ein neues – und schrieb den Titel »Dahlien« hinein. »Und seit wann vermissen Sie das Bild?«
    »Vermissen? Wie könnte ich es vermissen! Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, dass es weg ist. Es begleitet mich seit sechzig Jahren. Verstehen Sie?«
    Allmen verstand. Er wandte sich an Frau Talfeld. »Seit wann ist das Bild verschwunden?«
    Sie sah ihre Chefin an. Die hob die Schultern. »Erst gestern haben wir entdeckt, dass es fehlt. Es befand sich in einem Raum, der nicht täglich betreten wird.«
    »Darf ich ihn sehen?«
    Wieder konsultierte Frau Talfeld ihre Chefin mit einem Blick. Diese nickte. »Ich warte hier.«
    Das Schlafzimmer, in das Allmen geführt wurde, war mit ausgesuchten Stücken aus dem amerikanischen Art déco eingerichtet. Allmen erkannte viele seiner Lieblinge wieder: Donald Deskey in dem Schlafzimmerset aus tropischem Furnier, schwarzem Lack und Messing; Kem Weber in den stromlinienförmigen Sesseln aus Leder und Chrom; Wolfgang Hoffmann in dem fast schwerelosen
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