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Alles, was ist: Roman (German Edition)

Alles, was ist: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was ist: Roman (German Edition)
Autoren: James Salter
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hatte. Er war dort vom ersten Offizier hinbeordert worden, um im Flottenpostamt die Schiffspost aufzutreiben – sie hatten seit zehn Tagen nichts mehr bekommen –, und siegreich in einer TBM mit den zwei Säcken zurückgekehrt. Kimmel las Teile ihrer Briefe laut vor, vor allem Brownell zuliebe, dem dritten Mann in ihrer Kabine. Brownell war von tiefer idealistischer Moral und mit Spuren von Akne auf seinem leicht angespannten Kinn. Kimmel machte sich gerne einen Spaß mit ihm. Er roch an dem Briefpapier. Ja, das war ihr Parfum, sagte er, er würde es überall erkennen.
    »Und vielleicht noch etwas anderes«, rätselte er. »Ich frag mich, meinst du, sie hat es vielleicht, du weißt schon, an sich gerieben …? Hier«, sagte er und hielt das Papier Brownell hin. »Was meinst du?«
    »Davon weiß ich nichts«, sagte Brownell verunsichert. Seine Kiefermuskeln arbeiteten.
    »Klar doch, ein alter Frauenheld wie du.«
    »Versuch ja nicht, mich in deine Bettgeschichten reinzuziehen«, sagte Brownell.
    »Das sind keine Bettgeschichten, sie schreibt mir, weil wir verliebt sind. Es ist etwas Schönes und Reines.«
    »Als wüsstest du, was das ist.«
    Brownell las Der Prophet .
    » Der Prophet . Was ist das?«, sagte Kimmel. »Lass mal sehen. Was sagt er denn? Komm schon. Was wird passieren?«
    Brownell antwortete nicht.
    Die Briefe waren weniger aufregend, als man es von einem Blatt mit weiblicher Handschrift erwarten würde. Vicky redete gerne, und ihre Briefe waren eine ausführliche und etwas eintönige Beschreibung ihres Lebens, das unter anderem darin bestand, an all die Orte zurückzukehren, an denen sie mit Kimmel gewesen war, normalerweise in Begleitung ihrer besten Freundin Susu oder in Begleitung anderer junger Marineoffiziere, bei denen sie aber immer an Kimmel dachte. Der Barkeeper erinnerte sich noch an sie beide, ein wunderbares Paar. Als Abschluss setzte sie jedes Mal eine bekannte Liedzeile unter den Brief, I didn’t want to do it , schrieb sie.
    Bowman hatte keine Freundin, treu oder nicht. Er hatte keine Erfahrung in der Liebe, wollte es aber nicht unbedingt zugeben. Er ließ das Thema einfach an sich vorüberziehen, wenn die Sprache auf Frauen kam, und tat, als wäre Kimmels aufregende Affäre nichts, was ihm unbekannt wäre. Sein Leben war das Schiff und seine Pflichten an Bord. Er fühlte sich all dem treu verbunden, der Tradition, die er respektierte, er fühlte einen gewissen Stolz, wenn der Kapitän oder Sergeant ihn »Mister Bowman!« nannten. Er mochte es, wenn sie sich auf ihn verließen, wie beiläufig es auch war.
    Er war gewissenhaft. Er hatte blaue Augen und braunes, zurückgekämmtes Haar. Er war bereits in der Schule gewissenhaft gewesen. Miss Crowley hatte ihn nach der Stunde zur Seite genommen und ihm gesagt, er habe die besten Voraussetzungen für einen erstklassigen Latinisten, aber wenn sie ihn jetzt hätte sehen können, in seiner Uniform mit den meeresstumpfen Abzeichen, wäre sie sehr beeindruckt gewesen. Seit der Zeit, als er und Kimmel in Ulithi an Bord gekommen waren, hatte er, wie er fand, seine Arbeit gut gemacht.
    Die Frage, ob er sich im Kampf bewähren würde, lastete schwer auf ihm, als sie am Morgen dort standen, in aller Frühe, und auf die geheimnisvolle, fremde See hinausblickten und dann in den Himmel, der langsam heller wurde. Mut und Angst und wie man sich unter Beschuss verhielt, gehörten nicht zu den Dingen, über die gesprochen wurde. Man hoffte, wenn es so weit wäre, würde man handeln, wie es von einem erwartet wurde. Er vertraute auf sich, wenn auch nicht vollständig, und auf die Führung, die altbewährten Namen, die die Flotte kommandierten. Einmal hatte er in der Ferne, tief und geschmeidig durch das Wasser gleitend, das getarnte Flaggschiff gesehen, die New Jersey , mit Halsey an Bord. Es war, als würde man in Regensburg von Ferne Karl den Großen sehen. Er fühlte eine Art Stolz, wenn nicht gar Erfüllung. Es hatte gereicht.
    Die wahre Gefahr käme aus der Luft, die Selbstmordangriffe, die Kamikazeflieger – das Wort bedeutete ›göttlicher Wind‹, die vom Himmel gesandten Stürme, die Japan Jahrhunderte zuvor vor dem Einfall der mongolischen Flotte unter Kublai Khan gerettet hatten. Auch jetzt war es ein Eingreifen von oben, dieses Mal durch bombenschwere Flugzeuge, die sich direkt in die feindlichen Schiffe stürzten, wobei die Piloten starben.
    Der erste dieser Angriffe hatte ein paar Monate zuvor auf den Philippinen stattgefunden. Ein japanisches
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