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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit
Autoren: Ennio Flaiano
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Zeit.
    Ich ging näher und sagte:«Geht’s hier durch?»
    Sie lächelte, doch es war offensichtlich, dass sie nicht verstand. Ich zeigte zum Hochland hinauf, und sie nickte ein«Ja». Aber es war ein«Ja», das nichts besagen sollte. Sie wollte nur ausdrücken, dass sie sah, was ich zeigte. Es gab keine Möglichkeit, sie dazu zu bringen, etwas anderes zu sagen als:«Ja.»Alles war zutreffend für sie, ob ich nun nach rechts ging oder nach links, hierhin oder dorthin. Sie sah mich mit halbgeschlossenen Augen an.
    «Adi?» ( Adi heißt Dorf; eines der wenigen Worte, die ich kannte.)
    «Adi?» , wiederholte sie mit einer tiefen Stimme, die sie weniger jung erscheinen ließ, aber noch begehrenswerter machte. Dann nickte sie«Ja», immer«Ja». Es war nicht leicht, ihr begreiflich
zu machen, dass ich wünschte, sie solle mir die Richtung des Dorfes zeigen. Sie erhob sich, unbekümmert um ihren nackten Körper, kam zu mir heran und streckte ihren Arm über meine Schulter hinweg aus.
    Ich sah nichts weiter als die spitzen Berge jenseits des Flusses. Dann, als ich genauer hinschaute, sah ich etwa einen Kilometer entfernt einen bewaldeten Hügel. Vielleicht lag dort das Dorf. Nur wenige Hütten, stellte ich mir vor, vielleicht die mögliche«Wohnstätte von Hirten». Allerdings hatte es keinen Zweck, dorthin zu gehen, jetzt, da ich meinen Pfad wiedergefunden hatte und zur Brücke zurückkehren und einen Lastwagen finden konnte. Und das Dorf, sofern es dort wirklich eines gab, lag nicht am Weg zum Hochland, sondern gegen den Fluss hin. Aber es war seltsam, dass es an dieser Stelle Hütten gab. Oder vielleicht waren die Hütten erst kürzlich gebaut worden von den Flüchtlingen aus dem Hochland, die durch das Vordringen des Krieges verängstigt waren.
    Ich sah ihren nackten Körper nicht, aber ich spürte die unbekümmerte Brust nahe an meiner Schulter. Ich berührte sie. Fast mit Entsetzen stieß sie meine Hand von ihrem Busen und stieg wieder in den Tümpel. Vielleicht hatte meine Hand gezittert; jedenfalls war die Frau wieder im Tümpel, und wenn ich sie gebeten hätte, mir irgendeinen
anderen Ort zu zeigen, zum Beispiel den Fluss, so wäre sie nicht aufgestanden. Sie lächelte nicht mehr.
    «Ich muss fortgehen», dachte ich,«nichts hält mich hier zurück, gewiss nicht das durchaus alltägliche Schauspiel einer Frau, die sich wäscht.»Doch obschon ich auf diese Weise versuchte, es zu leugnen, stand mir jetzt der«richtige Weg»nicht mehr zuvorderst im Sinn. In diesem Augenblick wehte der Wind das Geräusch eines Lastwagens herüber. Ich machte mir heftige Vorwürfe, nicht bei der Brücke gewartet zu haben, sonst wäre ich zu dieser Stunde auf dem Hochland. Es war der zweite Lastwagen, den ich hinauffahren hörte, und wer weiß, wie viele in jenen Stunden vorbeigefahren waren, die ich damit zugebracht hatte, mich müde zu laufen. Ich sah meine noch nasse Handfläche an und beschloss mich zu waschen. Dort war noch ein anderer Tümpel mit sauberem Wasser; ich zog mein Hemd aus und dachte:«Das wird mir guttun. So bekomme ich keinen Sonnenstich.»
    Sie wurde neugierig, als sie mein neues Stück Seife erblickte. Jetzt wurde sie unruhig, konnte sich aber nicht entschließen, mich darum zu bitten. Ich warf es ihr hin - ich hatte noch ein zweites -, und sie fing wieder von vorn an, sich einzuseifen, sie lachte und beschnupperte die Seife;
aber sie schämte sich auch, weil sie dem Zauber von etwas erlegen war, das mir gehörte.
    Sie fing an, mir Rechte zuzuerkennen. Vielleicht weil der Mensch dort unten unsere Maschinen als übernatürliche Wesen ansieht, die durch göttliches Eingreifen funktionieren; und da er die Metaphysik akzeptiert, wundert er sich darüber nicht allzu sehr, wenigstens solange sie nicht Bomben fallen lassen oder schießen. Aber eine Flasche, ein Stück Seife, oh, solche Dinge sind von den Menschen gemacht, Gott hat damit nichts zu tun; sie sind von den«Herren»gemacht und beweisen ihre Überlegenheit.
    Ich schaute sie an, und die Reinheit ihres Blicks blieb ungetrübt. Ich fragte mich, wie man in solchem Maße Unschuld vortäuschen könne, und ich dachte von neuem, dass sie eine Luftspiegelung sei, eine Luftspiegelung für Fotografen. Und doch bewahrte meine Hand ihre Form, und sie bewahrt sie immer noch, unglücklicherweise.
    Ich begann mich wieder anzukleiden, es war höchste Zeit fortzugehen. Die Wirklichkeit war anders, die Frau musste wohl schon die hastigen Ansprüche der Soldaten oder der Arbeiter
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