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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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unter den Tischen noch ein paar russische Deserteure gelegen und geschlafen. Während er den ersten Hochprozentigen trank, und den zweiten, und den dritten, waren sie aufgewacht, hatten ihre Bündel zusammengesucht und waren mit einem kleinen, glatzköpfigen Mann, der bei Tagesanbruch erschien, und mit dem sie offenbar verabredet waren, fortgegangen. Weder der Glatzköpfige, noch irgendeiner von den Männern hatte dabei viel gesprochen, und dennoch war klar gewesen, dass diese Russen, wie man sie häufig in solchen Schankwirtschaften antraf, Männer waren, die sich entschlossen hatten, nicht mehr umzukehren. Nach dem, was er, der Beamte elfter Klasse, in der Nacht erlebt hat, versteht er plötzlich, was eine solche Grenzüberschreitung in Wahrheit bedeutet. Er versteht, was es bedeutet, wenn die Möglichkeit, den Rückweg anzutreten, nicht mehr besteht. Es ist, als würde jetzt von allem, was er sieht und was ihm begegnet, die Schicht abbröckeln, die ihn zuvor am Verstehen gehindert hat, und er muss nun das, was darunter liegt, ob er will oder nicht, erkennen und das Erkennen aushalten – aber wie das gehen soll, weiß er nicht.
    Manchmal hatte er sich, wenn er das Kind ansah, gefragt, woher es wohl gekommen, wo es vorher gewesen war, bevor seine Mutter es empfangen hatte. Jetzt würde er sich wünschen, dass es keinen Unterschied machte, ob das Kind erschienen, aber nur verschwindend kurz geblieben war, oder ob es überhaupt nicht erschienen wäre. Aber nein, es machte einen Unterschied. Mit dem Daumen reibt er einen blanken Mantelknopf blank. Weil es für den Unterschied zwischen Leben und Tod kein Maß gab, war das Sterben dieses winzigen Kindes ebenso absolut gewesen wie jedes Sterben. Noch niemals ist ihm das Messen, das ja doch sein Beruf ist, so überflüssig erschienen, wie an diesem Morgen. Soll er sich den Alltag wieder überziehen, nun, nachdem er verstanden hat, dass der Alltag nur ein Gewand ist?
    In der Nacht hatte er seine Frau angeschrien, weil sie das Kind zwar genommen und versucht hatte, es zu beruhigen, aber nicht gewusst hatte, was tun, weil sie kein Mittel gegen den Tod gewusst hatte, aber er hatte auch geschrien, weil er selbst kein Mittel gegen den Tod gewusst hatte.
    Er, der Beamte untersten Ranges, war dem Tod nicht gewachsen gewesen.
    Und jetzt?
    Der kleine glatzköpfige Mann betritt wieder die Wirtschaft, nickt dem Wirt zu und setzt sich an einen Tisch, nicht weit von dem königlichen und kaiserlichen Beamten, den er schon am Morgen dort sitzen gesehen hat, als er die Russen abholte. Der Beamte hat seinen Mantel mit den goldenen Knöpfen achtlos über einen leeren Stuhl geworfen, und gäbe es nicht den Mantel, wüsste der Glatzköpfige nicht, dass hier einer sitzt, der an einem solchen Tag um diese Zeit eigentlich längst in einem Büro sein sollte. Der Beamte ist unrasiert, die Enden seines Schnurrbarts sind schmutzig, er trägt keine Krawatte und hat schon wieder ein volles Gläschen Hochprozentigen vor sich stehen, er blickt aus dem Fenster auf die Straße, wo ein Köter im Kreis rennt und versucht, seinen eigenen Schwanz zu fangen, manchmal rutscht das Tier dabei auf einer überfrorenen Pfütze aus, taumelt kurz, kommt wieder hoch und beginnt erneut die Jagd nach seinem eigenen struppigen Ende. Der Glatzköpfige bestellt einen Gabelbissen, marinierten Hering, dazu ein Bier, und lässt es sich wohlsein. Er schließt nicht aus, dass hier an diesem Vormittag noch ein Geschäft zu machen ist.
    5
    E s ist wahr, sie ist aufgewacht, und es gibt diesen nächsten Tag, und auch den wird sie auf der Fußbank sitzend verbringen. Ihre Mutter hat offenbar noch in der Nacht oder am frühen Morgen die Schüsseln mit Essen weggeräumt, die die Trauernde nicht angerührt hat. Sie hört, wie in der Küche hantiert wird, Wasser plätschert, etwas wird auf dem Tisch beiseite geschoben, Schritte gehen über die Dielen, Porzellan klirrt. Im Kinderzimmer jedenfalls gibt es jetzt nichts mehr zu tun. Es war nicht so, wie sie gestern befürchtet hat: Dass sie im Schlaf vergessen würde, was passiert ist, und die Erinnerung beim Aufwachen wieder mit dem ganzen Gewicht über sie herfiele. Nein, den ganzen Schlaf hindurch hat sie gewusst, dass ihr Kind nicht mehr lebt, und beim Aufwachen hat sie es noch immer gewusst, der Schlaf war nicht mehr und nicht weniger bleiern gewesen als das Wachsein, und so war es ihr erspart geblieben, den abgelebten Alltag noch einmal einstürzen zu sehen. Als sie sich jetzt
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