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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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gekommen. Im Jahr seiner Anwartschaft, als er noch kein Gehalt bekam, hatte sein Hunger ihn dazu gebracht, sich zu verschulden. Schon mit Schulden beladen hatte er deshalb nach Ablauf des Anwartsjahres seine Tätigkeit als regulärer Beamter der elften, also der untersten, Gehaltsklasse beginnen müssen. Sein Hunger war immerhin ein Zeichen dafür gewesen, dass er lebendig war, und auch sein Frieren in diesem ersten Winter – die Schulden aber würden nun bei der geheimen Qualifikation , der verschwiegenen Einschätzung durch den Vorgesetzten, schlecht zu Buche schlagen. Wann er von der elften in die zehnte Gehaltsklasse aufsteigen würde, um die Schulden verringern zu können, war daher nicht zu sagen, und es wurde ihm auch von niemandem gesagt. Keine Aussicht also, ins normale Leben zurückzuspringen. Der Hunger und das Frieren befestigten den Hunger und das Frieren, so war das, wenn das Leben auch nur einmal überhandnahm. Dann hatte er die jüdische Kaufmannsfrau kennengelernt und ihre Tochter, deren Haut so weiß war, dass er schneeblind hätte werden können, wenn er als Käfer auf ihr herumspaziert wäre. Wenn er nur gewusst hätte, wo die Spur war und wo nicht, als er seinen Heiratsantrag machte. Mit einer jüdischen Mitgift zahlt man keine Schulden, auch wenn man sie zahlt. Es gibt Unterschiede. Die Unterschiede erkennt man daran, dass sich ein Schweigen breitmacht – im Casino, im Büro. Und dieses Schweigen hat etwas mit dem Ende im Allgemeinen zu tun, das versteht er jetzt, das hat er jetzt begriffen, da das Ende unübersehbar geworden ist. Wie still das Kind auf einmal war.
    Sein Vater war weder zur zivilrechtlichen Trauung noch zur Geburt des Kindes angereist. Der Weg sei zu weit und zu teuer. Seit drei Jahren hatte er ihn nun schon nicht mehr gesehen, und, wenn alles gut ging, müsste er ihn auch sonst niemals mehr sehen. Am Morgen nach der Geburt war er allein in ein Gasthaus gegangen und hatte mit fremden Männern auf das Neugeborene angestoßen, und als er den Schnaps, bevor er ihn hinunterschluckte, mit der Zunge im Mund herumwirbelte, um seinen Geschmack voll auszukosten, hatte er daran gedacht, dass auch seine kleine Tochter eine Zunge im Mund hatte, mit einem eigenen Inneren war sie aus dem Inneren ihrer Mutter geschlüpft, mit eigenen Höhlungen aus der Höhlung der Mutter. Er, der Beamte elfter Klasse, hatte etwas Lebendiges gezeugt, und keiner geheimen Qualifikation bedurfte es, um diese Tatsache anzuerkennen.
    Zwei Zentner Bindfaden braucht man, um den Bahnhof von Brody anlässlich einer Durchfahrt des Kaisers mit Blumenschmuck zu versehen. Eichenholzbohlen mit Fünfzehner- Querschnitt, um die Schwellen zwischen den Bahngleisen zu erneuern. 600 Gulden im Jahr bekommt ein Beamter der elften Gehaltsklasse, ein Beamter der zehnten hingegen 800, und mit etwas Glück noch 200 Gulden Zulage. Was aber machte man mit all dem, was sich nicht berechnen ließ? Wieviel Zeit lag zwischen der Sekunde, in der ein Kind lebendig war, und der nächsten, in der es nicht mehr lebendig war? War das überhaupt Zeit, was einen solchen Moment von den anderen trennte? Oder müsste das anders heißen, nur war noch kein Name dafür gefunden? Wie berechnete man die Kraft, die ein Kind hinüberzog zu den Toten?
    Er erinnert sich noch an den Moment, in dem er sich zum ersten Mal vorgestellt hatte, wie die weiße Spalte zwischen den Beinen seiner Braut aussehen mochte, fleischig und prall, und wenn er sie mit den Fingern auseinanderspreizte, wäre der winzige rote Hahnenkamm zu sehen. Später dann, als sie seine Frau war, hatte er die Geräusche geliebt, die ihrer beider verschwitzte Körper machten, wenn sie sich aneinander rieben und voneinander lösten, geschnalzt und geschmatzt hatte es, ihre Münder, Zungen, Lippen waren ineinander verschwommen, saugend hatte sich, was zuvor einzeln war, in eine einzige feuchte Höhle aus Fleisch verwandelt. Fleisch, Fleisch, manchmal hatte das Wort gereicht, um ihn zu erregen. Aber seit er gestern Nacht seiner Frau das leblose Kind aus dem Arm genommen und es in die Wiege zurückgelegt hat, weiß er, wie kalt sich etwas Gestorbenes anfühlt, viel kälter, als er es jemals erwartet hätte. Er weiß nicht, wie er das je wieder vergessen soll. Er, der Beamte elfter Klasse, hat etwas Totes gezeugt, und es bedarf keiner geheimen Qualifikation , um das zu erkennen.
    Sonnenlicht fällt auf den rohen Kiefernholzboden des Wirtshauses, in dem er sitzt. Als er in der Nacht hier ankam, hatten
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