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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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aufrichtet und wieder auf die Fußbank setzt, wird es still in der Küche, als wolle die Mutter belauschen, was ihre Tochter tut, seit die sich gerührt hat. Warum war es jetzt daheim wie auf der Jagd? Im Salon schlägt die kleine Standuhr mit hellen, blechernen Schlägen 6 Uhr, dann ist alles wieder vollkommen still. Ihr Mann ist, wie es scheint, noch immer fort. Gestern, als sie von der Beerdigung ins Haus zurückkehrten, und sie sich auf den Schemel setzte, hatte er versucht, sie wieder hochzuziehen, aber als ihm das nicht gelang, war er aus dem Haus gelaufen. Seitdem hat sie ihn nicht mehr gesehen. Wird es ihr jetzt genauso ergehen wie ihrer Mutter? Wenn sie als kleines Mädchen versuchte, sich vorzustellen, wo ihr Vater sein mochte, statt bei seiner Familie zu sein, sah sie immer einen vor sich, der sich aufgehängt hat. Vater ist vielleicht in Amerika, hatte die Mutter gesagt. Oder in Frankreich. Aber sie hatte ihr nicht geglaubt. Ihre Mutter hatte über die Abwesenheit ihres Mannes immer wie über etwas Endgültiges, Unumkehrbares gesprochen, hatte niemals die leiseste Hoffnung in ihrer Tochter aufkommen lassen, dass er heimkehren, oder gar in der Nähe sein könnte, in der Kreisstadt etwa, mit einer anderen Frau, mit neuen Kindern. Manchmal hatte es ihr geschienen, als verschlüge es Leuten, denen sie zum ersten Mal ihren Namen nannte, einen Augenblick lang die Rede. In Amerika, hatte ihre Mutter gesagt, oder in Frankreich. Aber sie selbst hatte den Vater nie als Lebendigen vor ihrem inneren Auge gesehen, weder in Amerika noch in Frankreich, und auch nicht hier in der Nähe, sondern immer nur als einen Mann, der sich zum Beispiel aufgehängt hat – und wenn etwas nah war, war es höchstens der Wald, in dem er vielleicht gebaumelt hatte, womöglich war sie an dem Baum, an dem er den Strick festgemacht haben mochte, schon vorüberspaziert.
    Brauchst du irgend etwas, fragt jetzt die Mutter. Hinter ihr scheint die Sonne in die Küche hinein, deshalb sieht die Mutter wie ein Schattenriss aus. Die Tochter schüttelt den Kopf. An diesem zweiten Tag, an dem sie sitzt, spricht sie mit der Mutter nicht viel. Niemand kennt ihre Mutter besser als sie, und niemand kennt sie besser als ihre Mutter, da gibt es nicht viel zu sagen. Sie sitzt und denkt daran, dass ein Teil von ihr jetzt unter der Erde liegt und zu verwesen beginnt, dann schaut sie ihre Haut an, die noch an der Luft ist und lebt. Eine Freundin kommt zu Besuch, bringt wieder Schüsseln und sagt: Du wirst ein zweites Kind haben, und auch ein drittes und viertes. Sie sagt, wir werden sehen. In einer der Schüsseln, die die Freundin gebracht hat, sind Eier, sie weiß, dass das so üblich ist, aber sie mag sie nicht essen. Eine Nachbarin klopft nicht einmal, sondern stürzt heftig weinend zur Tür herein, streift nicht einmal den Schnee von den Schuhen, sondern fällt mit ihrem Weinen der Sitzenden gleich vor die Füße, gelobt sei der einzige Richter, schreit sie und steht wieder auf, fällt auch der Mutter schluchzend um den Hals, warum nur, warum, schüttelt den Kopf, spricht dann wieder nichts, weil die Stimme vor lauter Weinen ihr nicht zur Verfügung steht. Der Kutscher Simon kommt, er bleibt gleich bei der Tür im Flur stehen und sagt, es tue ihm leid, er bringe ein wenig Suppe, seine Frau lasse schön grüßen, sie könne leider nicht selbst hier erscheinen, weil sie so krank sei. Es kommt eine andere Freundin und sagt: Von Anfang an hab ich gedacht, dass es blass war. Eine andere, die sagt: Warum habt ihr denn keinen Arzt mehr gerufen? Ging es wirklich so schnell? Eine dritte: Die Kleinen halten nun einmal nichts aus, wer weiß, was sich der Herr in seiner unendlichen Größe gedacht hat! Eine vierte: Wo überhaupt ist denn dein Mann? Die Großmutter kommt am Abend, setzt sich zu ihr auf den Boden, nimmt die bestrumpften Füße der Enkelin in ihren Schoß und wärmt sie mit ihren Händen, erst da vermag diese zum ersten Mal, seit das Kind tot ist, zu weinen. Am dritten Tag kommt wieder der, der und die. Wie vor einen Altar treten Freunde und ehemalige Nachbarn aus dem Ghetto vor den Schemel mit der Trauernden hin, sie bringen ihr Essen, sie trösten, sie wissen selbst, wie es ist, ein Kind zu verlieren, oder wissen es nicht, nicht wenige sind wahrscheinlich sehr zufrieden darüber, dass es eine erwischt hat, die mit einem Goj und so weiter, aber das sagen sie nicht, sondern sie sagen zum Beispiel: Das Wichtigste ist doch, dass du selber noch lebst. Was
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