Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Terézia Mora
Vom Netzwerk:
Versuche misslangen der Reihe nach, die Geschichte nahm eine nicht vorhergesehene Wendung, und er starb jedes Mal, doch er blieb hartnäckig. Irgendwann gelang ihm schließlich der Sprung über die Mauer, und dann waren stundenlang nur noch die Züge da, die Züge, die Züge, und dann gar nichts.
    Eines Freitag morgens erwachte Abel Nema, weil er das Läuten von Glocken hörte. Etwa dreißig Glocken läuteten etwa dreißig Jahre lang. Er hielt die Augen geschlossen. Die Sonne schien auf ihn. Da ist dieser Mensch. In den Augen schmerzte es ein wenig, Folge der zeitweise extremen Verdrehung der Augäpfel, aber das war schon alles. Abgesehen davon war es, als wäre gar nichts gewesen. Als wäre nie etwas gewesen. Saß auf dem Balkon, ging mit geschlossenen Augen seinen Körper durch: nichts. Irgendwann hörte das Geläut auf und die Züge waren wieder da. Ihr Quietschen und Brummen. Ihr Geruch im hauchfeinen Wind, der sein Gesicht berührte. Er öffnete die Augen.
    Und verlor unter dem Druck der unerwarteten Helligkeit und Weite des Himmels vor ihm fast das Gleichgewicht, obwohl er saß und obwohl der Ausblick in der unteren Hälfte vergittert war. Die obere Querstange verlief etwa in Stirnhöhe. Zwischen den Gitterstäben die Backsteinmauer. Sie kam ihm gealtert vor. Dahinter erkannte er dreizehn Schienenpaare. Sehr alte und sehr neue Waggons fuhren auf ihnen hin und her. Kugeln auf einem Abakus. Er dachte es, und sein Nachbar fiel ihm ein, der Physiker, dem es nicht gelungen war, auszurechnen, was da gerechnet wurde. Oder dem es, im Gegenteil, gelungen ist.
    Hallo, sagte in diesem Moment Halldor Rose hinter der Balkontrennwand. Ich bin wieder da.

    Denn, worum geht es hier eigentlich?, sagte Halldor Rose einige Tage zuvor zu seiner Schwester Wanda. Doch darum, dass ich eine Gotteserfahrung gemacht habe.
    Mein Gott, sagte Wanda.
    Lass mich ausreden! Eine Gotteserfahrung gemacht, ich verstehe, dass man dafür jederzeit ins Irrenhaus kommt, es war sehr freundlich von dir, mich wieder herauszuholen. Aber was ich nicht verstehe, ist, wieso ich seitdem mit kurzen Unterbrechungen für Nahrungsaufnahme und Schlaf quasi ununterbrochen durch Kartoffeläcker und Silos geführt werden muss. Was sollen sie bedeuten, diese Berge von Kartoffeln, die man mir verschwörerisch zeigt, junge, keimende und runzlige, eine Metapher auf das Leben, oder was? Hier ist auch eine grobe Waage, auch das passt, mit einpaar leeren Säcken daneben, soll das ein Zeichen sein? Soll ich aus der Anordnung der Flecken auf den Schalen irgendwelche Schlüsse ziehen oder aus dem Flug des Staubes über den Feldern? Soll ich aus der Krümmung oder den Linealgeraden der Reihen irgend etwas ersehen oder aus den Essensresten an der Familientafel, wo ich am Kopfende sitze, Wanda genau gegenüber, damit ich sie gut sehen kann und sie mich gut sehen kann. Soll ich aus dem Kaffeesatz auf dem Schwamm im Spülbecken lesen und etwas, was?, einsehen? Im Grunde geht es doch um nichts anderes, als dass man mich in dieser öden Idylle festgesetzt und zur tödlichen Langeweile verurteilt hat, aus keinem anderen Grund, als dass ich mich weigere, diese Erfahrung, Gott, zu leugnen. Wenn Wanda der Meinung ist, das sei alles ein von Drogen ausgelöster Wahnzustand …
    Vorübergehend, nur vorübergehend, sagte sein schnurrbärtiger Schwager und bot ihm Schnaps an.
    Nein, danke, ich trinke nicht. Wenn es also so ist, wieso gibt sie sich nicht damit zufrieden, wieso besteht sie darauf, dass ich auf diese, ich zitiere: Himmelfahrtsgeschichte verzichte?
    Ich verstehe nicht so viel davon, sagte der Schwager, aber hast du nicht selbst gesagt, du willst eigentlich gar nichts mehr damit zu tun haben?
    Nein, sagte Halldor Rose finster. Das war es nicht, was ich gesagt habe.
    Und hier fiel ihm ein, wie das Ganze überhaupt angefangen hatte, worum es am Anfang ging, und am nächsten Tag organisierte er mit einer ihm kaum zuzutrauenden Pfiffigkeit und Ökonomie seine Flucht aus der Kartoffelwüste. Der Pommes-frites-Fahrer setzte ihn auf derselben Brücke ab, auf der er schon vor einer Woche gestanden war. Er ging gar nicht erst nach Hause, er ging geradewegs zu seinem Arbeitsplatz, einem Forschungsinstitut für theoretische Physik, wo man sich weder wunderte noch sonderlich freute, man sagte ihm, es bestünde kein Grund zur Eile, es sei sowieso schon so gut wie Wochenende, wieso gönne er sich nicht noch ein wenig Zeit und erhole sich von seinen Strapazen, am Montag sehe man weiter. Auch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher