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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Terézia Mora
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war es.
    Schau mich an, sagt mein Sohn.
    Ich öffne die Augen. Er schwebt mit untergeschlagenen Beinen unter der Decke, sein Name ist Ausweg.
    Dein Name ist, sagt er, während er schon ausbleicht wie alte Filmaufnahmen, dein Name ist: Jitoi.
    Abel Nema alias El-Kantarah alias Varga alias Alegre alias Floer alias des Prados alias ich: nicke.
    Jawohl, sage ich. Amen leba.

    Angekommen bin ich nun in der vollkommenen Windstille. Ich seufze, um sie zu spüren: die Leichtigkeit im Rippenkorb. Alles ist leicht jetzt. Nicht mehr in Gips gegossen, auch nicht in Beton, kein Gehirnklumpen geistert mehr in den Ecken, ich spüre und sage es: Nun wird mein Leiden bald ein Ende haben. Mein Jahrzehnt in der Hölle ist um. Wem habe ich das geschuldet? Vielleicht niemandem.
    Und taumelte los, ein schwankender, schmerzender Körper, Gehen oder Kriechen, irgendwas in der Art, auf die Schienen zu.

0. AUSGANG
Verwandlungen

Erwachen
    Von irgend welchen Lichtern gefaselt und im Vollrausch vom Balkon spaziert, fünf Etagen, plumps, auf den Gehsteig, so ein hoffnungsvolles Talent. Alle anderen waren auch schon völlig hinüber oder mit anderem beschäftigt, oder wie kam es, dass es keinem einfiel, ihn davon abzuhalten, auf dem Balkongeländer zu balancieren, was hat ihn dazu getrieben, mancher glaubte sogar an eine Halluzination, nanu, da steht einer auf dem Balkongeländer, und plumps ist er wieder weg. Da waren keine Lichter, er hat gar nichts gesagt, zu wem auch, da war niemand, er war allein, und gegangen ist er auch nicht, er war froh, kriechen zu können, obwohl er keine Schmerzen hatte, es war eine Frage des Gleichgewichts. Weil ihm so schwindlig war, setzte er sich in den kleinen Gitterkasten, den er seinen Balkon nennt, und blieb einfach sitzen, man konnte ihn von unten sehen, von der Sonne gegerbt, vom Wind getrocknet, eine Statue, jahrelang, die Wohnung gehörte niemandem, man hat sich höchstens gewundert, wie geschmacklos, da zieht jemand seinem Skelett Kleider an und setzt es auf den Balkon, aber es kommen nicht viele vorbei in einer Sackgasse mit Blick zur Bahn, und so wunderten sich auch nur wenige. Saß da oben und schaute den Zügen zu, wie sie hin und her geschoben wurden. Anfangs schwankten die Entfernungen noch, zur Klinke musste er sich strecken, als wäre er drei oder unter Riesen, das Balkongeländer dafür war winzig wie für Däumlinge, darüber zu geraten war keine Kunst. Er nutzte die Gunst des Moments, als die Entfernung zur Mauer gerade klein und sein Bein lang war und trat einfach hinüber . Das war gut, das war wie Kindheit oder manchmal auch heute noch, dieses Gefühl, es wäre nur ein Schritt zu der Küstenlinie dort drüben. Vorsichtig den Fuß zwischen die Schienen gesetzt, um nicht umzuknicken und womöglich das Haus mit sich zu reißen, in dem der andere, der kleinere Fuß noch steckte. Woher er auch immer gekommen war, ob über die Mauer geklettert, sich durch die Stacheldrahtrolle gezerrt, vielleicht war er einfach auf der falschen Seite aus einem Zug gestiegen, jetzt jedenfalls stand er zwischen den Gleisen, links und rechts neben ihm bewegten sich die Wagen hin und her, so dass er später das Gefühl hatte, rückwärts zu gehen, obwohl er vorwärts schritt. Manchmal hörte er auch auf, Schritte zu tun, dennoch ging es weiter, mal rückwärts, mal vorwärts. Wie in einer großen, grunzenden, quietschenden Herde, wenn er nicht ging, trugen sie ihn. Zuerst gefiel es ihm gut, das gibt so ein Gefühl von Gemeinschaft und Dynamik, ich gehe nicht, etwas trägt mich trotzdem, und zwischen den Körpern der anderen ist oben der Himmel mit den Wolken. Später fiel ihm auf, dass es immer dieselben Wolken waren, da erkannte er: der Himmel ist eine Endlosschleife und das bedeutet nichts anderes, als dass er vermutlich nie hier herauskommen würde. Das ist so ein Moment, in dem die Verzweiflung in einem hochfährt, als wäre die Wirbelsäule, die Speiseröhre ein Lift, speziell dafür, aber dann sagte er sich, damit sind wir doch durch, und beruhigte sich wieder. Er fügte sich, ging manchmal, dann ließ er sich wieder tragen, und von da an ward er nicht mehr gesehen - - -

    Die toxische Wirkung bei einer etwas weniger als tödlichen Dosis Amanita muscaria hält etwa sechsunddreißig Stunden vor. Anschließend verfällt man in einen nicht selten ebenso langen Schlaf. Anfangs hatte er allerhand Träume, später nur noch einen, in dem er versuchte, auf den Balkon und von da aus zu den Schienen zu gelangen. Die
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