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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Terézia Mora
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bekannt, aber viele sagen auch Stereo. Die Zeichen der Zeit sind Kommunikation. Jeder, der sich äußert, ist willkommen, wir sprechen, also sind wir, bilden Laute, die sich zu Gruppen zusammenfügen, zu kleinen Sträußchen, die hier ein Wort sind und dort gar nichts, aber macht nichts, dafür haben wir ja mich. Bei Tischformen ist das Rund zu bevorzugen, wahlweise das Oval, weil raumsparender, das ist nicht unwichtig, denn dem allumfassenden Zusammensein sind nicht zuletzt physische Grenzen gesetzt. Materie braucht nun einmal Platz, das kann zu nicht unerheblichen Konflikten führen. Der Dolmetscher hat auch die Speisekarte zu übersetzen, die Suppe heißt Royal, davor gibt’s Ansprachen, später reden alle durcheinander, wie es ihre Art ist. Was sie auch immer sagen, und wenn es Mord ist, ich muss es wiederholen, und die Galgenfrist dauert exakt solange, bis ich noch spreche. Habe ich nicht manchmal daran gedacht, dass ich, in dem ich die eine Nuance der anderen vorziehe, nachhaltigen oder kurzzeitigen Einfluss auf den Gang der Welt nehmen könnte? Zum Beispiel, in dem ich den Satz nie beende. Einen UNENDLICHEN SATZ sprechen, das wäre gut, aber ist das nicht zu viel für einen einzelnen Menschen?
    Alles in allem: ich klage nicht. Wenn ich mir auch keinen Begriff davon gemacht habe, die meiste Zeit war ich: glücklich. Abgesehen von den Rissen – ich weiß nicht, kann man sagen: in der Zeit? –, wenn es plötzlich unerträglich wurde, weder Leben noch Tod, sondern etwas Drittes, wofür der Mensch nicht gemacht ist, wenn die Flutwelle des Ekels, der Furcht sich über einen ergießt und einen fortreißt, noch nicht einmal in den Schmerz, noch nicht einmal das, sondern ins Nichts, Nichts, Nichts, bis es irgendwann, wie Wasser, langsamer wird und mit einem idyllischen Plätschern vergeht, und ich, Treibgut, auf dem Ufer übrig bleibe.
    Kleine Pause, damit ich die nächsten Worte, die mir, nicht einzeln, doch in ihrer Abfolge, aus gewissen, persönlichen Gründen heilig sind, mit dem entsprechenden Raum sprechen kann:
    Manchmal, sage ich, bin ich von Liebe und Hingabe ganz erfüllt. So ganz und gar, dass ich fast aufhöre, ich zu sein. Meine Sehnsucht, sie zu sehen und zu verstehen, ist so groß, dass ich mir wünsche, die Luft zwischen ihnen zu sein, dass sie mich einatmen und ich eins mit ihnen werde bis hinunter in die letzte Zelle. Ein anderes Mal bin ich wiederum so überschwemmt von Ekel, wenn ich sie vor mir sehe, diese Kadavermünder, wie sie essen und trinken und reden, und alles in ihnen wird zu Morast und Lüge, und ich fühle, wenn ich mir das noch einen Augenblick länger ansehen und anhören muss, werde ich auf das nächstbeste Gesicht so lange einprügeln, bis nichts mehr davon übrig ist.
    So. Jetzt ist es raus. Ja, verdammt, ich weiß, was draußen ist. Draußen ist, dass ich nicht weiterfahre, sondern den Zug zurück nehme und bereits unterwegs jeden kille, der das Pech hat, meinen Weg zu kreuzen. Plündern, vergewaltigen, das ist nicht meine Sache. Auch die Folter befriedigt mich nicht. Aber ich könnte wortlos und ohne nennenswerte Verzögerung, distanziert und präzise: töten. Freund, Feind, egal. Ich wäre ganz unparteiisch. Rassismus und andere Vorurteile spielen für mich keine Rolle. Mann, Frau, Kind, Greis sind mir gleich wert. Ich bin eine faire Maschine. Es ist keine Gnade in mir.
    Ich sitze zwischen grauen Mauern, nicke wie ein alter Mann:
    So, so, so ist es. Ich sehne mich zurück. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Gleichzeitig weiß ich genau, wenn ich je in meine Stadt zurückkehren würde und sie sehen: die Straßen, die Häuser, die Kastanien, und wenn ich die Spuren der Zerstörung sehen würde, oder wenn es überhaupt keine Spuren mehr zu sehen gäbe, denn es würde alles schon wieder so märchenhaft schön sein wie einst unter dem unvergleichlich blauen Himmel der Heimat, wenn ich sehen würde, was zu sehen ist oder nicht zu sehen ist, würden auf der Stelle sämtliche Barrieren in mir fallen, als hätte ich giftige Pilze gegessen, und ich würde unter himmelfahrenden Flüchen alles kurz und klein schlagen. In diesem Zustand bin ich zu größeren Kraftanstrengungen fähig als normalerweise! Ich kann die Stadt mit der Faust zermalmen, dieses Labyrinth vaporisieren, ich finde anders nicht heraus, ich bin zu schwach dafür, aber ich bin stark genug, es bis auf die Grundmauern niederzureißen. Das kann gut und gerne Jahrhunderte dauern, aber vielleicht ist es auch nur ein Tageswerk.
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