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Alle meine Wünsche (German Edition)

Alle meine Wünsche (German Edition)

Titel: Alle meine Wünsche (German Edition)
Autoren: Grégoire Delacourt
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aber ich habe wahrhaftig etwas empfunden. Sie zog den Stecker der kleinen Kamera aus dem Radiola und flüsterte, während sie mich ansah: Ich habe den Bolero von Ravel in Bilder umgesetzt, Maman, damit die Tauben ihn hören können.
    Dann drückte ich meine Tochter an mich, an meinen schlaffen Körper, und ließ meine Tränen fließen, weil ich ahnte, auch wenn ich nicht alles verstand, dass sie in einer Welt ohne Lügen lebte.
    Für die Zeit dieser Umarmung war ich eine glückliche Mutter.
    Romain kam später, zum Baumstammkuchen und den Geschenken. Er hatte ein Mädchen am Arm. Er hat mit seinem Vater Tourtel getrunken und sich beschwert: Das ist doch Eselspisse, dieses Zeug, hat er gesagt, und Jo hat ihn zum Schweigen gebracht mit einem bösen: Ja, dann frag doch Nadège, was das Gesöff macht, sie wird es dir erklären, Idiot, dummer kleiner Idiot. Dann hat das Mädchen gegähnt, und Weihnachten war verdorben. Nadine hat nicht auf Wiedersehen gesagt, sie ist in der Kälte verschwunden, hat sich verflüchtigt wie Dunst. Romain hat den Kuchen aufgegessen; er hat sich den Mund mit dem Handrücken abgewischt, hat seine Finger abgeleckt, und ich habe mich gefragt, was all die Jahre genützt haben, in denen ich ihm beibringen wollte, sich ordentlich zu benehmen, nicht die Ellbogen auf den Tisch zu stellen, danke zu sagen, all diese Lügen. Bevor er auch gegangen ist, hat er uns mitgeteilt, dass er seine Ausbildung abbrechen und mit dem Mädchen als Kellner in der Crêperie im Palais Breton arbeiten würde, in Uriage, einem Thermalbad zehn Minuten von Grenoble entfernt. Ich habe meinen Jo angesehen, meine Augen schrien: Sag doch was, hindere ihn daran, halt ihn zurück, aber er hat unserem Sohn nur die Flasche entgegengestreckt, wie es manchmal die Männer in amerikanischen Filmen machen. Er hat ihm viel Glück gewünscht, und das war alles.
    So weit. Ich bin siebenundvierzig.
    Unsere Kinder leben jetzt ihr Leben. Jo hat mich noch nicht wegen einer Jüngeren, einer Schlankeren, einer Schöneren verlassen. Er arbeitet viel; im letzten Monat hat er eine Prämie bekommen, und wenn er eine Weiterbildung macht, haben sie ihm gesagt, kann er eines Tages Vorarbeiter werden; Vorarbeiter, das würde ihn seinen Träumen näher bringen.
    Seinem Cayenne, seinem Flachbildschirm, seinem Chronographen.
    Meine Träume sind verschwunden.

    I n der fünften Klasse träumte ich davon, Fabien Derôme zu umarmen, aber den Kuss bekam Juliette Bocquet.
    Als ich dreizehn war, tanzte ich am 14. Juli zu L’Été indien und betete, dass sich die Hand meines Kavaliers auf meine sprießende Brust verirren möge; er wagte es nicht. Nach dem Slow sah ich ihn mit seinen Freunden lachen.
    Als ich siebzehn war, träumte ich davon, dass meine Mutter vom Bürgersteig aufsteht, auf dem sie plötzlich zusammengebrochen war, wobei sie einen Schrei ausstieß, der nicht herauskam, ich träumte, es sei nicht wahr, nicht wahr, nicht wahr; es habe nicht plötzlich diesen Fleck zwischen ihren Beinen gegeben, der sich so unanständig auf ihrem Kleid ausbreitete. Mit siebzehn träumte ich, dass meine Mutter unsterblich sei, dass sie mir eines Tages helfen würde, mein Brautkleid zu nähen, und mich bei der Auswahl des Straußes, der Torte, der blassen Farbe der Dragees beraten würde.
    Mit zwanzig träumte ich davon, Designerin zu werden, nach Paris zu gehen, Unterricht im Studio Berçot oder d’Esmod zu nehmen, aber da war mein Vater schon krank, und ich nahm die Arbeit im Kurzwarenladen von Madame Pillard an. Damals träumte ich insgeheim von Solal, vom Märchenprinzen, von Johnny Depp und Kevin Costner vor den Implantaten, aber es wurde Jocelyn Guerbette, mein rundlicher Venantino Venantini, etwas dicklich und ein Schmeichler.
    Wir trafen uns zum ersten Mal im Laden, als er für seine Mutter dreißig Zentimeter Valenciennes-Spitze kaufte, eine sehr feine geklöppelte Spitze mit fortlaufenden Fäden und zarten Motiven, ein Gedicht. Sie sind ein Gedicht, sagte er. Ich wurde rot. Mein Herz raste. Er lächelte. Die Männer wissen, welche Katastrophen bestimmte Worte im Herzen der Mädchen auslösen; und wir armseligen Idiotinnen sind hingerissen und gehen in die Falle, begeistert, weil uns endlich ein Mann eine gestellt hat.
    Er schlug vor, nach Feierabend einen Kaffee trinken zu gehen. Ich hatte hundertmal, tausendmal von diesem Moment geträumt, wo mich ein Mann einladen, mir den Hof machen, mich begehren würde. Ich hatte geträumt, überwältigt zu sein, im
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