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Alle meine Wünsche (German Edition)

Alle meine Wünsche (German Edition)

Titel: Alle meine Wünsche (German Edition)
Autoren: Grégoire Delacourt
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siebenundsechzig Millionen, und mich musste es treffen. Ich las den Kasten in der Voix du Nord . Alles stimmte.
    Die 6, die 7, die 24, die 30 und die 32. Die Sterne Nummer 4 und 5.
    Ein Los, das in Arras, an der Place des Héros, abgegeben worden war. Ein Einsatz von zwei Euro. Ein Zufallssystem.
    18547301 Euro und 28 Cent.
    Ich wurde ohnmächtig.

    J o fand mich auf dem Boden in der Küche – wie ich Maman vor dreißig Jahren auf der Straße gefunden hatte.
    Wir wollten zusammen einkaufen gehen, als ich merkte, dass ich die Liste auf dem Küchentisch vergessen hatte. Ich ging nochmal hoch, Maman wartete draußen.
    Als ich wieder runterkam, genau in dem Moment, wo ich auf die Straße trat, sah ich, wie sie mich anschaute und den Mund aufriss, aber kein Ton kam heraus; ihr Gesicht verzerrte sich zu der gleichen Grimasse wie bei der schrecklichen Gestalt auf dem Gemälde von Munch, Der Schrei , und sie sank wie ein Akkordeon in sich zusammen. Es genügten vier Sekunden, und ich war Waise. Ich stürzte herbei, aber zu spät.
    Man stürzt immer zu spät herbei, wenn jemand stirbt. Was für ein Zufall.
    Schreie ertönten, eine Bremse quietschte. Die Worte schienen wie Tränen aus meinem Mund zu strömen, sie erstickten mich.
    Dann tauchte der Fleck auf ihrem Kleid, zwischen ihren Beinen auf. Der Fleck wuchs zusehends, wie ein schändlicher Tumor. In meiner Kehle spürte ich sogleich die Kälte eines Flügelschlags, das Brennen einer Kralle, dann, nach dem der Gestalt auf dem Gemälde, nach dem meiner Mutter, öffnete sich auch mein Mund, und zwischen meinen grotesken Lippen flog ein Vogel davon. Einmal an der Luft, stieß er einen entsetzlichen Schrei aus, sein versteinerndes Lied.
    Ein Todeslied.
    Jo geriet in Panik, als er mich auf dem Boden liegen sah. Er dachte, es sei die mörderische Grippe. Er wollte Doktor Caron rufen, aber ich kam zu mir und beruhigte ihn. Es ist nichts, ich hatte bloß keine Zeit, Mittag zu essen, hilf mir beim Aufstehen, ich setz mich fünf Minuten hin, dann geht’s wieder, dann geht’s.
    Du bist ganz heiß, sagte er, seine Hand auf meiner Stirn.
    Ich sage dir, es geht wieder, außerdem habe ich meine Regel, deshalb ist mir heiß.
    Regel . Das Zauberwort. Das die meisten Männer in die Flucht treibt.
    Ich mach dir was warm, schlug er vor und öffnete den Kühlschrank, oder willst du eine Pizza bestellen?
    Ich lächelte. Mein Jo. Mein Lieber. Wir könnten vielleicht ausnahmsweise mal essen gehen, flüsterte ich.
    Er lächelte, griff nach einem Tourtel. Ich ziehe mir eine Jacke an, dann steht dein Kavalier bereit.
    Wir aßen beim Vietnamesen zwei Straßen weiter. Es waren kaum Gäste da, und ich fragte mich, wie das Restaurant durchhielt. Ich bestellte eine leichte Suppe mit Reisnudeln ( bún thang ), Jo frittierten Fisch ( cha ca ), und ich nahm seine Hand, wie in unserer Verlobungszeit vor zwanzig Jahren.
    Deine Augen glänzen, flüsterte er mit wehmütigem Lächeln.
    Und wenn du mein Herz rasen hören könntest, dachte ich, würdest du Angst bekommen, dass es explodiert.
    Die Gerichte kamen schnell, ich brachte kaum einen Löffel von meiner Suppe herunter.
    Jos Miene verdüsterte sich: Geht’s dir nicht gut?
    Ich senkte langsam den Blick: Ich muss dir etwas sagen, Jo.
    Er musste das Gewicht meines Geständnisses ahnen. Er legte seine Stäbchen hin. Wischte sich mit der Baumwollserviette vorsichtig die Lippen ab – im Restaurant gab er sich immer Mühe –, nahm meine Hand. Seine trockenen Lippen zitterten: Hoffentlich nichts Ernstes, sag schon. Du bist doch nicht krank, Jo? Weil … weil, wenn dir etwas zustoßen würde, wäre es das Ende der Welt, ich …
    Tränen stiegen mir in die Augen, und gleichzeitig begann ich zu lachen, ein unterdrücktes Lachen, das dem Glück glich.
    … ich würde ohne dich sterben, Jo.
    Nein, Jo, nein, nichts Ernstes, mach dir keine Sorgen, flüsterte ich.
    Ich wollte dir sagen, dass ich dich liebe.
    Und ich schwor mir, dass kein Geld der Welt es jemals wert wäre, das alles zu verlieren.

    I n dieser Nacht liebten wir uns sehr sanft.
    War es wegen meiner Blässe, meiner neuen Empfindlichkeit? War es wegen der irrationalen Angst, mich zu verlieren, die ihn ein paar Stunden zuvor im Restaurant gepackt hatte? War es, weil wir schon lange nicht mehr miteinander geschlafen hatten, weil er Zeit brauchte, um die Geographie der Lust neu zu erlernen, seine männliche Brutalität zu zähmen? War es, weil er mich so sehr liebte, dass er mein Vergnügen über
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