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Alchemie der Unsterblichkeit

Alchemie der Unsterblichkeit

Titel: Alchemie der Unsterblichkeit
Autoren: K Pflieger
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»Etwas Obst, mein Junge?«
    Icherios kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er wusste nicht, wann er seinen letzten Apfel gegessen hatte. Durch die Hungersnot waren die Preise für frische Lebensmittel ins Unermessliche gestiegen. Hastig griff er nach einem rotwangigen Apfel und biss herzhaft hinein. Verlegen musterte er den alten Mann, während er kaute. Seine Kleidung war schlicht, aber gut geschnitten. Um seinen Hals hing an einer langen Kette ein Kreuz, dessen Enden jeweils von drei Halbkreisen umrahmt wurden. Die Mitte zierte eine Rose. Die Frucht blieb Icherios beinahe im Halse stecken. Er hatte das Kreuz zuvor gesehen, in einem Buch über die Rosenkreuzer, einem uralten Geheimbund. Als er Freybergs Hände einer genaueren Betrachtung unterzog, erschreckte er noch mehr. Sie waren riesig! Mit einer dieser Pranken könnte man Icherios’ Kopf vollständig umfassen. Am Ringfinger der linken Hand prangte ein goldener Ring, auf dem die Monas-Glyphe, ein Symbol der geheimen Gesellschaft der Rosenkreuzer, eingeprägt war.
    Freyberg blieb Icherios’ Reaktion nicht unbemerkt. Er war daran gewöhnt. Immerhin fing der Junge nicht an zu schreien, wie manch anderer. »Jetzo. Du bist also der Neue? Raban hat von dir berichtet.«
    In Icherios’ Blick spiegelte sich seine Verwirrung wider, bis er sich seines Auftrags entsann. »Ich bin Assistent der Karlsruher Stadtwache.«
    »Das sagtest du bereits, Jungchen, mir wurdest du jedoch als frischer Rekrut gemeldet. Die Kanzlei steht über der Wache, und seit Inspektor Filiskus in Ungarn verschollen ist, fehlen uns fähige Leute.«
    Icherios drehte seinen Hut nervös in der Hand. Dies entwickelte sich nicht, wie er erwartet hatte. »Was für eine Bewandtnis hat es mit dieser Einrichtung?«
    Freybergs Gesichtszüge entgleisten. »Jetzo! Sag nicht, dass dich Raban nicht aufgeklärt hat?«
    Icherios schüttelte den Kopf. »Er gab mir nur diesen Zettel mit Anschrift und Uhrzeit.«
    »Dieser alte Narr, ich sollte ihm den Kopf abreißen!«
    Icherios erblasste bei den Worten.
    »Wurdest du wenigstens den Einweihungsriten unterzogen?«
    »Nein, tut mir leid.«
    »Hast du denn das Handbuch erhalten?«
    »Nein, Herr.«
    »Hat man dein Blut getestet?«
    »Nein.«
    Freyberg fluchte verhalten. »Man könnte meinen, Raban wolle dich loswerden.« Auf seiner Stirn bildete sich eine nicht zu übersehende Falte. »Setz dich hin und kremple deinen Ärmel hoch.«
    Zögernd gehorchte Icherios. Beim Anblick der Narben hielt der Alte inne. »Bist du sicher, dass du dir das nicht mit Absicht zugefügt hast? Selbstmordversuche machen die Seele anfällig.«
    Als Icherios’ Züge sich daraufhin verhärteten, glaubte der Chronist erkennen zu können, was Raban von Helmstatt in ihm sah. Vielleicht hatte der Junge doch eine Chance.
    »Ich erinnere mich nicht, wie ich an die Wunden gekommen bin. Ich weiß nur, dass mir an diesem Abend nichts ferner lag, als mich umzubringen.«
    »Dann hoffen wir das Beste für dich, Jungchen.«
    Der alte Mann wackelte zu einem Tisch und kam mit einer Spritze zurück, deren Größe Icherios etwas Angst machte. Mit geübtem Griff suchte er eine Ader in der Armbeuge und stach mit der Nadel zu. »Werd mir bloß nicht ohnmächtig!«
    Die Warnung kam zu spät. Sobald das erste Blut in die Glasröhre sprudelte, dämmerte Icherios hinweg. Freyberg Zweifel keimten erneut auf. Kritisch musterte er den schlaksigen Jüngling. Seine Züge verrieten ausgeprägte Sturheit. Hinter der albernen Brille hatten seine Augen allerdings vor Intelligenz gefunkelt. Dennoch schien er zu verhaftet in der wissenschaftlichen Aufgeklärtheit zu sein, die keinen Raum für die übernatürlichen Phänomene bot, mit denen sich die Angehörigen der Kanzlei beschäftigten. Anselm schaute nach draußen in den verregneten Himmel. Der Lärm des Tumultes verklang, doch das schien erst der Anfang zu sein. Es war das zweite Jahr in Folge, in dem es bis in den Juli hinein schneite. Etwas Ungeheuerliches ging vor, und die Rosenkreuzer hatten nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, was es war. Es war eine Schande, das Leben eines neuen Rekruten derart leichtsinnig aufs Spiel zu setzen, aber was blieb ihnen in diesen Zeiten anderes übrig?
    Sobald die Spritze gefüllt war, zog er die Nadel heraus und hielt Icherios Riechsalz unter die Nase. Langsam kehrten die Lebensgeister des jungen Gelehrten zurück. Freyberg nutzte die Zeit, um das Blut in einen gläsernen Kolben zu füllen und ein weißes Pulver hinzuzufügen.
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