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Alasea 02 - Das Buch des Sturms

Titel: Alasea 02 - Das Buch des Sturms
Autoren: Das Buch des Sturms
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meiner Zelle höre ich, wie der Scharfrichter seine Messer am Stein wetzt, ein Geräusch, das ebenso scharf schneidet wie die Klinge, die er schleift. Wenn ich diese Worte allesamt niedergeschrieben habe, wird er meinen Bauch öffnen, damit alle lesen können, was die Götter in mein Inneres geschrieben haben. Ich werde ein offenes Buch sein. So mögen diese Worte sowohl eine Einleitung zur Übersetzung der Kelvish-Schriften als auch eine Einleitung zu dem offenen Buch sein, zu dem mein Leichnam beim nächsten Sonnenaufgang werden wird.
    Ich bin gezwungen, in dieser Nacht meine Geschichte niederzuschreiben, damit es meiner lieben Frau Delli vergönnt sein möge, rasch unter der Klinge des Beilschwingers zu sterben, statt auf dem Stein der Gerechtigkeit zu leiden und sich zu winden. Ich schreibe, damit sie vielleicht in Frieden sterben darf. Aber wie ich bereits erwähnte, müssen meine letzten Worte von der Wahrheit geprägt sein. Und die Wahrheit ist, dass ich dieses Vorwort auf jeden Fall schreiben würde, ob nun die Art des Sterbens meiner Frau von meinen Handlungen abhängt oder nicht.
    Denn Schreiben ist nicht nur mein Handwerk - sondern mein Leben.
    Mit Schreiben habe ich das Brot für meine Kinder verdient und meiner Familie ein Dach über dem Kopf geschaffen, aber es war auch Nahrung für meine Seele. Wie könnte ich mich also weigern, zum letzten Mal eine Geschichte zu erzählen - selbst wenn es die Geschichte meiner eigenen Verdammung ist, eine Geschichte, die dazu dienen soll, den Leser von den Verlockungen abzuschrecken, die den Großen Schriften innewohnen.
    Ich weiß, dass ich ein Exempel für jene Studenten sein soll, die hoffen, dereinst als Gelehrte des Gemeinwesens zu wirken. Mein Tod soll Zeugnis sein für die Verderbtheit und Verdammnis, die der Text der Großen Schriften in sich birgt.
    So soll es denn sein.
    Hier ist meine Geschichte:
    In den dumpfigen Gassen von Gelph traf ich zufällig einen schwarzen Tändler, der mit geheimnisvollen Dingen handelte und Verbotenes feilbot. Er stank nach Würzbonbons und saurem Bier, und ich war geneigt, ihn aus dem Weg zu schieben. Doch der Halunke hatte mir offenbar in die Seele geblickt, denn er unterbreitete mir flüsternd ein Angebot, das ich nicht abschlagen konnte: die Gelegenheit, verbotene Worte aus lang vergangenen Zeiten zu lesen. Er bot mir eine Abschrift der Großen Schriften an, bewahrt auf der abgezogenen Haut eines toten Glaubenseiferers. In meiner Eigenschaft als Schriftsteller hatte ich Gerüchte über einen solchen Text gehört und hätte vermutlich jeden Preis bezahlt, um Gelegenheit zu bekommen, den genauen Wortlaut zu lesen. Und ich hatte Recht - es kam mich teuer zu stehen, dem Straßenhändler mit den faulen Zähnen die Abschrift abzuschwatzen.
    Bei Kerzenlicht las ich den gesamten Text in vier schlaflosen Tagen und Nächten. Ich fürchtete, jemand könnte mich bei der Lektüre stören und mir die Abschrift unter den Augen wegschnappen, deshalb las ich ohne Pause. Unterdessen wuchs mir ein Stoppelbart auf den Wangen, aber ich hörte nicht auf, bis das letzte Wort meine müden Augen erreicht hatte.
    Der erste Teil der Großen Schriften kam mir so harmlos vor, dass ich nicht verstand, warum sie verboten worden waren. Ich ärgerte mich darüber, dass ein so erfreuliches Werk den Leuten vorenthalten wurde, doch als ich zum Ende des letzten Teils kam, wusste ich Bescheid … ich wusste, warum die Großen Schriften vor den Augen der Allgemeinheit verborgen bleiben sollten. Daraufhin war ich mehr als ärgerlich - ich tobte vor Wut über die Ungerechtigkeit. Und da die Worte der Schriften mir Kraft verliehen, hegte ich die Absicht, die Geschichte den Leuten zur Kenntnis zu bringen.
    Ich schmiedete also einen Plan.
    Ich dachte, ich könnte die Schriften in ein Schauspiel umarbeiten - ein paar Namen und Orte verändern, das Ganze in einer etwas abgewandelten Handlung verpacken - und trotzdem den Leuten die verborgene Magik nahe bringen. Doch ein Mitglied der Schauspieltruppe verriet mich. Am Abend der Uraufführung meines Stückes wurde ich zusammen mit meiner Truppe und dem gesamten Publikum festgenommen.
    Von den zweihundert Leuten, die in jener regnerischen Nacht abgeführt wurden, bin ich - mit Ausnahme meiner Frau - der Letzte, der noch atmet. Doch ihr Wehklagen klingt mir bis heute in den Ohren. Während der fünf Winter meiner Gefangenschaft habe ich so viele Tränen vergossen, dass meine Zunge ständig durstet. Selbst jetzt, da ich diese
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