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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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von Felsen eingeengt, dadurch verliert der für seine Erhabenheit berühmte Strom zeitweise seine Gutmütigkeit, wechselt von zerstreuter Gemächlichkeit zu raschen Lauf, bringt Gischtwellen und dunkle Strudel hervor und berennt und unterhöhlt wie seit Jahrhunderten das Sawolshker Steilufer mit tückischen Angriffen. Etwa fünf Werst stromab wird der linke Uferhang nach und nach flacher und sandiger, der Fluss wird freier und fließt, nach dem erzwungenen Sturmlauf verpustend, fast eine Werst breit dahin. Allein, die Atempause ist nur kurz – genau da, wo Drosdowka liegt, bäumt sich das trotzige Ufer wieder jäh auf; das Gutshaus mit dem Garten liegt hoch über dem Wasser, und der Blick, der sich von dort auftut, gilt zu Recht als der schönste im ganzen Kreis.
    Der Weg, den Schwester Pelagia zu gehen hatte, lag also in südlicher Richtung, durch das Kasaner Tor auf die Astrachaner Landstraße, die sich am Fluss entlang zieht, allen seinen launischen Krümmungen folgt und sich nie weiter als fünf Werst von ihm entfernt.
    Bevor Pelagia ihr Kämmerchen im bischöflichen Kloster, Zelle genannt, verließ, schlug sie nach alter abergläubischer Gewohnheit das Evangelium auf und stieß mit dem Finger auf die erstbeste Zeile. Ihr Auftrag war diesmal nicht erschreckend, man konnte sogar sagen, er war nichtig, doch die Nonne hatte nun mal diese Gewohnheit] Aber die Zeile war sichtlich kein Zufall, denn sie enthielt eine Einflüsterung oder Warnung: »Hütet euch vor den Hunden und hütet euch vor den bösen Menschen.«
    Es war wohl doch eine Warnung, denn als sie die Stadt verließ und schon den Schlagbaum hinter sich hatte, gab es ein böses Vorzeichen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, holte sie aus der Gürteltasche, in der sie ihr Strickzeug verwahrte, ein Spiegelchen hervor und betrachtete darin ihre Nase, ob die Löwenzahnmilch die frechen Sommersprossen schon gebleicht hätte. Da raschelte es in den Büschen am Straßenrand, und heraus kamen zwei Weiber. Schwester Pelagia wollte die Hand hinterm Rücken verstecken, machte es aber so ungeschickt, dass ihr das Spiegelchen herunterfiel. Sie hob es auf – o weh, das Glas hatte zwei Sprünge über Kreuz, und jeder weiß, was für ein Zeichen das ist. Es verheißt nichts Gutes.
    Pelagia nahm böse Vorzeichen trotz der Klostervorschriften sehr ernst, nicht aus Unwissenheit, nein, sie hatte sich viele Male überzeugen können, dass die Leute nicht von ungefähr seit Jahrhunderten an ihnen festhielten. Wie es in solchen Fällen üblich war, nahm sie eine Hand voll Erde auf, warf sie über die linke Schulter, schlug das Kreuzeszeichen (was sie nie ohne Grund tat), sprach ein Gebet an die Heilige Dreifaltigkeit und wanderte weiter.
    An Beängstigendes mochte sie nicht denken, vor ihr lag ein wenn auch kleines, so doch interessantes Abenteuer, und ihre Stimmung, vorübergehend getrübt durch den Verlust des Spiegels, besserte sich rasch, zumal in dieser zauberhaften Sommerzeit, in der die Sonne der Luft einen goldenen Honigschimmer verleiht, der Himmel hoch und die Erde weit und alles ringsum prallvoll ist von reichem Leben und sanfter Mattigkeit. Aber wozu soll man das beschreiben, auch so weiß ja jeder, wie ein sonniger Augusttag aussieht, wenn es kurz nach Mittag ist.
    Schon zu Beginn hatte Pelagia Glück – ein altes Bäuerlein nahm sie auf seinem Fuhrwerk mit. Die Wege in unserm Gouvernement sind neu und eben, man fährt, als glitte man über Eis, und Pelagia gelangte auf dem weichen Heu bequem bis zur Abzweigung nach Drosdowka.
    An der Gabelung gab es noch ein Vorzeichen, eines, das sich schlimmer nicht denken lässt. Nachdem Pelagia abgestiegen war und das Bäuerlein gesegnet hatte, sah sie etwas abseits etliche Leute, die schweigend ein Fuhrwerk um standen. Aus angeborener Neugier konnte die Schwester daran nicht Vorbeigehen, also trat sie näher, um zu sehen was sich da zugetragen hatte. Sie drängte sich durch die Bauern und Pilger und spähte mit schmalen Augen durch die Brille: ein gewöhnlicher Vorfall auf einer Landstraße – eine Achse war gebrochen. Aber bei dem schief liegenden Fuhrwerk stand aus irgendwelchen Gründen der Kreispolizeichef, und zwei Polizisten versuchten ächzend, das Rad auf ein frisch gefälltes und notdürftig geglättetes Eichenstämmchen zu schieben. Den Polizeichef kannte Pelagia, es war Hauptmann Neruschailo aus dem benachbarten Kreis Tschernojar. In dem Fuhrwerk lag etwas Längliches, mit einer
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