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Abschlussfahrt

Abschlussfahrt

Titel: Abschlussfahrt
Autoren: Jochen Till
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Ganz großer Fehler. Kurz darauf schläft er nämlich ein. Und zwar tief und fest. Muss ich noch mehr sagen? Rache ist süß. Und rot. Und für alle da. Selbst die Mädels legen mit Hand an und malen Blümchen auf seine Stirn. Wir sind in der Wahl unserer Motive nicht ganz so freundlich. Als Marlon wieder aufwacht, ist er von Penissen, Cojones und Brüsten übersät. Sein Gesicht, sein Hals, seine Ohren, seine Arme, kaum ein sichtbares Stück Haut an seinem Körper, das nicht rot gesprenkelt ist. Sogar seine Brustwarzen sind rot, was er allerdings noch nicht weiß und erst zu Hause unter der Dusche feststellen wird. Brustwarzen schrubben tut bestimmt gut weh, das war natürlich meine Idee. Eins muss man Marlon allerdings lassen, er zeigt absolut Größe in seiner Niederlage. Als wir mitten in der Nacht zu Hause ankommen, hat er nicht einen einzigen roten Strich oder Fleck entfernt und präsentiert sie stolz wie Kriegsverletzungen.
    Auf mich wartet am Bahnhof ein ganzes Familien-Empfangskomitee. Vater, Mutter, Bruder, alle sind sie da und winken mir aufgeregt entgegen, meine Mutter sogar mit einem riesigen Blumenstrauß. Was soll das denn? Ich komme doch nicht aus dem Exil. Ach so, stimmt ja, mein Geburtstag, das hatte ich schon wieder völlig vergessen, darum auch die Blumen.
    Der Begrüßungsarie folgt der wesentlich weniger theatralische Abschied von den Jungs. Kein Grund für Tränen, wir sehen uns ja sowieso alle schon am Montag wieder in der Schule. Und um ehrlich zu sein, freue ich mich jetzt auch total auf mein eigenes Zimmer mit meinem eigenen Bett. Morgen ausschlafen, das wird ein Fest!
    Nele und ich verabschieden uns mit einem Kuss. Nicht allzu lang, aber auf den Mund. Ob wir hier zu Hause wohl weiter so tun werden, als wären wir zusammen? Keine Ahnung. Abwarten. Das muss ja nicht jetzt entschieden werden. Jetzt will ich nur noch nach Hause.
    »Hallo!«, brüllt Wuttke über den Bahnsteig. »Kommt ihr bitte alle noch mal kurz zusammen!«
    Na super. Eine letzte Rede. Er kann es aber auch einfach nicht lassen. Wir folgen seinem Ruf und versammeln uns um ihn herum.
    »Ich wollte mich nur noch kurz bei euch bedanken«, beginnt Wuttke. »Mir hat die Fahrt insgesamt sehr gut gefallen. Auch wenn es immer mal wieder ein paar Schwierigkeiten gab.«
    Ein kurzer, aber nicht böser Blick zu uns.
    »Ich hoffe, es hat euch genauso viel Spaß gemacht wie mir. Und vielleicht nimmt der eine oder andere ja ein bisschen was aus der wunderschönen Toskana fürs Leben mit, das würde mich freuen. Kommt alle gut nach Hause! Wir sehen uns dann am Montag!«
    Etwas fürs Leben mitnehmen. Das klingt so geschwollen. Ein typischer Lehrerspruch. Ob ich wirklich etwas aus der Toskana fürs Leben mitnehme, weiß ich nicht. Aber vergessen werde ich sie und diese Abschlussfahrt jedenfalls nie. Es ist so viel passiert in der kurzen Zeit. Wir haben sehr viel gelacht in der Toskana. Und sehr viel gesoffen. In der Toskana wurde ich entjungfert. In der Toskana wurde ich volljährig. Und in der Toskana wurde ich zur Legende. So was vergisst man nicht. Niemals. Danke, Toskana. Danke, Herr Wuttke.

Epilog
    »Scheiße, so geht das nie ab!«, flucht Marlon neben mir.
    »Nein«, ächze ich. »Da müssen wir wohl doch mit der Salzsäure dran.«
    Marlon schüttelt den Kopf. »Ich fass das Zeug nicht an! Ich will meine Finger behalten.«
    »Du sollst es dir ja auch nicht auf die Finger kippen, sondern in den Eimer.«
    »Mach du’s doch, wenn du so scharf drauf bist.«
    »Ey, wessen Idee war das denn hier? Meine oder deine?«
    »Ja, ja, okay, ich mach’s ja gleich. Lass es uns aber erst noch mal ohne versuchen.«
    Sommerferien. Erste Woche. Zweiunddreißig Grad im Schatten. Und wir schrubben uns hier in der prallen Mittagssonne an der Waschbetonwand am Haupteingang der Schule einen Wolf. Sonst kriegen wir unsere Abschlusszeugnisse nämlich nicht ausgehändigt. Als Einzige aus dem ganzen Jahrgang. Die anderen haben ihre natürlich längst, seit der offiziellen Abschlussfeier in der Turnhalle vor zwei Wochen. Nur wir haben unsere nicht gekriegt. Alles nur wegen Betzel, dieser miesen Petze. Aber die Quittung dafür hat er schon gekriegt, noch am selben Tag. Ja, okay, so ganz unschuldig sind wir natürlich nicht daran, dass wir jetzt hier stehen. Wir mussten ja unbedingt in der letzten Nacht vor der Abschlussfeier noch einen Riesen-Phallus, wie Wuttke es in dem Brief an unsere Eltern formuliert hat, samt dicken Cojones an diese Wand hier sprühen. Das
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