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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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eine Alternative zu den Forderungen nach Euthanasie und der ärztlichen Mitwirkung beim Suizid bedeuten? Das Wissen über und die Verfügbarkeit palliativmedizinischer Möglichkeiten zur effektiven Kontrolle von Schmerzen und belastenden Symptomen sind die wesentliche Voraussetzung dafür, dass Menschen mit fortgeschrittenen Erkrankungen die Angst vor einem qualvollen Sterben verlieren können. Dementsprechend stellt die medizinische Ebene der Symptomkontrolle die vielleicht wichtigste Möglichkeit dar, dem Wunsch nach aktiver Sterbehilfe oder Tötung auf Verlangen eine Alternative entgegenzusetzen. Todeswünsche aufgrund unbefriedigender Symptomkontrolle werden in palliativmedizinischen Einrichtungen nur selten geäußert. Wenn es dennoch vorkommt, dann verbirgt sich dahinter in der Regel der verzweifelte Wunsch der Betroffenen, ihre Lebenssituation so erträglich zu machen, dass auch das Sterben angenommen werden kann, und nicht der Wunsch nach einer vorzeitigen Lebensbeendigung. In meiner langjährigen Erfahrung als Arzt konnte die rasche und erfolgreiche Kontrolle von Symptomen unter Respektierung des Selbstbestimmungsrechts der Patienten häufig erreichen, dass diese ihren Wunsch nach Euthanasie unter einem anderen Blickwinkel betrachteten.
    Vor einigen Jahren starb auf der Palliativstation Herr P., eine im öffentlichen Leben stehende Persönlichkeit, die durch einen vor wenigen Wochen entdeckten, weit fortgeschrittenen und metastasierten Blasenkrebs im wahrsten Sinne des Wortes mitten aus dem Leben gerissen worden war. Nach reiflicher Überlegung hatte er sich entschieden,auf alle chemotherapeutischen, operativen und strahlentherapeutischen Optionen, die ihm angeboten wurden, zu verzichten. Er wurde auf die Palliativstation verlegt mit der ausdrücklichen Bitte, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen durchgeführt würden. Seit Wochen hatte er nicht geschlafen, er litt unter kolikartigen Bauchschmerzen und schwerster Atemnot. Er begrüßte mich mit dem Satz: »Eigentlich ist es schade, dass wir hier nicht die Möglichkeiten haben wie in den Niederlanden.« Diese Bemerkung traf mich tief, und ich versprach, ihm mit allen meinen Möglichkeiten zu helfen und für ihn da zu sein. Die Atemnot und die Schmerzen konnten auf eine große Flüssigkeitsansammlung im Bauchraum zurückgeführt werden, und ich schlug eine entlastende Punktion vor, die er als symptomlindernde Maßnahme schließlich akzeptierte. Als ich ihn am nächsten Morgen besuchte, hatte er nach langer Zeit erstmals wieder richtig geschlafen, und wir vereinbarten, diese Maßnahme zu wiederholen, so oft sie ihm Entlastung brächte. Er fragte, wie viel Zeit er noch habe, und ich antwortete: »Ich denke, es sind noch wenige Tage, vielleicht Wochen …«, und wies ihn darauf hin, wie kostbar und wichtig die Zeit des Abschieds sein könne. Seine Frau, die sich am Tag zuvor noch vergewissern ließ, dass wir auf keinen Fall lebensverlängernde Maßnahmen einleiten würden, sagte nun zu mir: »Aber auf etwas mehr Zeit dürfen wir doch hoffen.« Die nächsten Tage waren angefüllt mit Terminen, Besuchen von Freunden und Angehörigen, die sich verabschiedeten und das Sterben des zunehmend schwächer werdenden Herrn P. tief erschüttert und betroffen begleiteten. Das Thema Sterbehilfe wurde nicht mehr angesprochen. In diesem Fall konnte eine gute palliative Symptomkontrolle dem Sterben des Herrn P. eine andere Würde verleihen, als es unter dem Blickwinkel des unerträglichen Leidens und dadurch sinnlosen Lebens zunächst schien.
    Natürlich gibt es auch in der Palliativbetreuung Situationen, in denen die Symptomkontrolle nicht befriedigend gelingt. Aber gerade hier zeigt sich, wie wichtig ein umfassendes palliatives care not to cure , das sich nicht nur auf die Medizin beschränkt, sein kann. In terminalen Erkrankungssituationen und in längeren Sterbephasen wird der Wunsch nach ärztlicher Hilfe zum Tod nicht nur von Betroffenen, sondern häufig auch von Angehörigen geäußert. Wenn das Sterben unerträglich lang schien, wurde manchmal die Bitte an mich herangetragen: »Können Sie … warum können Sie nicht ein bisschen nachhelfen?« Eine Bitte, die das Leiden an der Zeit und vielleicht weniger an körperlichem Schmerz zum Ausdruck bringt.
    Eine von Vertrauen und Respekt geprägte therapeutische Beziehung auf der psychologisch-sozialen Ebene ist eine weitere Möglichkeit, dem Verlangen nach Euthanasie entgegenzuwirken und sich dem Sterben in seiner
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