Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition)
Autoren: Peter Watts
Vom Netzwerk:
Meerwasser, das um sie herum hereinströmt. Ihr Gesicht taucht unter Wasser; ihre Umgebung verschwimmt und wird sogleich wieder klarer, wenn sich die Hornhautkappen an die neue Situation angepasst haben.
    Sie sinkt gegen die Wand und wünscht sich, sie könnte schreien. Der Boden der Luftschleuse unter ihr klappt auf wie unter einem Galgen. Lenie Clarke stürzt mit den Armen rudernd in die Tiefe.

    Mit brennenden Scheinwerfern gelangen sie aus der eiskalten Dunkelheit in eine Oase aus strahlendem Natriumlicht. Überall am Schlund wachsen Maschinen aus dem Boden wie stählernes Seegras. Spinnweben gleich überziehen Kabel und Rohre den Meeresboden. Die Hauptpumpen ragen über zwanzig Meter hoch auf – eine Batterie unterseeischer Monolithen, so weit das Auge reicht. Scheinwerferlicht von oben taucht das ganze Durcheinander in ewige Dämmerung.
    Einen Moment lang bleiben sie stehen und halten dabei die Leine umklammert, die sie hierhergeführt hat.
    »Daran werde ich mich nie gewöhnen«, sagt Bates in einem knarrenden Ton, der nur ein Zerrbild ihrer normalen Stimme ist.
    Clarke wirft einen Blick auf den Thermistor an ihrem Handgelenk. »Vierunddreißig Grad.« Die Worte dringen mit einem metallischen Surren aus ihrem Kehlkopf hervor. Es fühlt sich seltsam an zu reden, ohne dabei zu atmen.
    Ballard lässt die Leine los und schwimmt auf das Licht zu. Einen Moment später folgt ihr Clarke atemlos.
    Dieser Ort verströmt so viel Kraft, so viel verschwendete Energie. Hier ringen die Kontinente selbst miteinander. Magma erstarrt und bringt das Meerwasser zum Kochen. Jedes Jahr werden in einem schmerzhaften Prozess neue Zentimeter Meeresboden geboren. Hier am Schlund erzeugen die Maschinen der Menschen keine Energie – sie klammern sich nur am Meeresboden fest und stehlen ihm einen unbedeutenden Teil davon für das Festland.
    Clarke fliegt durch Schluchten aus Metall und Felsgestein, und ihr wird klar, was es heißt, ein Parasit zu sein. Sie wirft einen Blick nach unten. Schalentiere so groß wie Felsbrocken und drei Meter lange scharlachrote Würmer drängen sich zwischen den Maschinen auf dem Meeresboden. Scharen von Bakterien, die sich von Schwefel ernähren, hängen wie ein milchiger Schleier im Wasser.
    Plötzlich dringt ein grauenhafter Schrei zu ihr herüber.
    Es klingt weniger wie ein menschlicher Laut, sondern eher als sei eine riesige Harfensaite in langsame Schwingungen versetzt worden. Doch Ballard schreit durch ein schwerfälliges Interface zwischen menschlichem Körper und Metall:
    »LENIE …«
    Clarke dreht sich noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie ihr Arm in einem Maul verschwindet, das unwirklich groß erscheint.
    Zähne wie Krummsäbel schließen sich um ihre Schulter. Clarke starrt in ein schuppiges, schwarzes Gesicht, das etwa einen halben Meter breit ist. Ein Teil von ihr, der seltsam losgelöst erscheint, sucht in dieser monströsen Verbindung aus Stacheln, Zähnen und schuppiger Haut vergeblich nach Augen. Wie kann es mich überhaupt wahrnehmen?, überlegt sie.
    Dann setzt der Schmerz ein.
    Sie spürt, wie ihr der Arm aus dem Gelenk gezerrt wird. Das Geschöpf wirft sich herum, schüttelt den Kopf hin und her und versucht, sie in Stücke zu reißen. Bei jedem Ruck schreien ihre Nervenenden auf.
    Sie gibt jeden Widerstand auf. Wenn du mich umbringen willst, dann tu es bitte schnell, lieber Gott, lass es bald vorbei sein … Sie spürt den Drang, sich zu übergeben, doch die Hülle der Taucherhaut über ihrem Mund und ihre in sich zusammengefallenen Eingeweide machen das unmöglich.
    Sie verschließt sich vor dem Schmerz. Damit hat sie eine Menge Erfahrung. Sie zieht sich in sich selbst zurück und überlässt ihren Körper der Vivisektion durch das Ungeheuer. In weiter Ferne spürt sie, wie die Bewegungen ihres Angreifers plötzlich unregelmäßig werden. Neben ihm ist ein weiteres Geschöpf aufgetaucht, mit Armen, Beinen und einem Messer – ein Messer, wie das, das an deinem Bein festgeschnallt ist und das du vollkommen vergessen hast – und plötzlich lässt das Ungeheuer von ihr ab und ist verschwunden.
    Clarke befiehlt ihren Nackenmuskeln, sich zu bewegen. Es ist, als führte man eine Marionette. Ihr Kopf dreht sich. Sie sieht Ballard mit etwas kämpfen, das genauso groß ist wie sie. Nur dass Ballard es mit bloßen Händen in Stücke reißt. Die eiszapfenähnlichen Zähne des Geschöpfs splittern und brechen ab. Dunkles Eiswasser strömt aus seinen Wunden, und die letzten Zuckungen seines
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher