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Abgeschaltet

Abgeschaltet

Titel: Abgeschaltet
Autoren: Johannes Winterhagen
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Irgendwann gab er auf, ohne die Ursache erkannt zu haben: Die eingebrachte Energie war einfach nicht ausreichend, und Energie lässt sich nun mal nicht vermehren.
    Nach einem Medizinstudium heuerte der 26-jährige Mayer als Schiffsarzt auf einem holländischen Dreimaster an. In tropischen Breitengraden hatte er ein Erlebnis, das sein Leben veränderte: Er führte bei einigen erkrankten Seeleuten einen Aderlass durch und erschrak ob der hellroten Farbe des Blutes. Wahrscheinlich fürchtete er um das Leben seiner Patienten, denn das Blut in den Arterien ist heller als das in den Venen – ein ärztlicher Kunstfehler? Örtliche Kollegen klärten ihn auf: Die helle Blutfarbe sei für die Tropen typisch, da für die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur weniger Blutsauerstoff verbraucht würde. (Je mehr Sauerstoff unser Blut enthält, desto heller ist es.) Fortan dachte Mayer permanent darüber nach, wie Nahrungsaufnahme – also das Konsumieren chemischer Energie –, körperliche Arbeit und Körpertemperatur zueinander im Verhältnis stehen.
    Ein Jahr später kehrte Mayer ins heimische Heilbronn zurück, ließ sich als Arzt nieder und heiratete. Aber das Nachdenken über Energie ließ ihn nicht mehr los, und so publizierte er 1842 seinen Aufsatz »Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur«. Dessen zentraler Satz lautet: »Es gibt in Wahrheit nur eine einzige Kraft. Im ewigen Wechsel kreist dieselbe in der toten wie in der lebenden Natur.« Mayer, der physikalischer Laie war, hätte besser den Begriff »Energie« verwendet, denn genau die versuchte er herzuleiten: Energie entsteht nicht aus dem Nichts, und sie verschwindet auch nicht. Sie kann sich aber verwandeln, zum Beispiel von mechanischer Energie in Wärme und umgekehrt. Für umfangreiche Experimente fehlte Mayer die Zeit, aber zumindest konnte er sich von der Richtigkeit seiner Idee dadurch überzeugen, dass er Flüssigkeiten, die er in einen Metallbehälter sperrte, durch Schütteln erhitzte.
    Wenn sich Energie in einem abgeschlossenen System nicht vermehrt, dann muss jede Maschine in der realen Welt, in der ein Teil der mechanischen Energie durch Widerstände verloren geht, ohne Energiezufuhr irgendwann den Betrieb einstellen. Plastisch wird dies, wenn man beim Auto den Fuß vom Gaspedal nimmt: Der Luftwiderstand – der mit der Geschwindigkeit im Quadrat steigt (in diesem Fall sinkt) – und der Rollwiderstand der Reifen sorgen dafür, dass man, auch ohne zu bremsen, irgendwann zum Stehen kommt. Besonders schnell natürlich, wenn es bergauf geht, denn dann muss das Auto ja auch gegen die Schwerkraft ankämpfen.
    Diese Erkenntnis, so trivial sie erscheinen mag, ist eine der wichtigsten der Menschheitsgeschichte. Als erster Hauptsatz der Thermodynamik bildet sie eine wesentliche Grundlage der modernen Naturwissenschaft. Hätte es im 19. Jahrhundert den Nobelpreis bereits gegeben, Mayer wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit bedacht worden. Doch wie viele Genies wurde auch er zunächst verkannt, zumal er einen mächtigen Rivalen hatte: den Briten James Prescott Joule, den Mann, nach dem heute die internationale Maßeinheit für Energie benannt ist.
    Joule, vier Jahre jünger als Mayer, hatte andere Rahmenbedingungen für seine Forschungen: Er war Sohn eines Brauereibesitzers, ökonomische Sorgen dürften ihm fremd gewesen sein. So studierte er schon mit 17 Jahren Physik und Chemie, mit 22 formulierte er das erste von ihm entdeckte physikalische Gesetz: Ein mit Strom durchflossener Leiter – man darf auch Kabel sagen – erhitzt sich in Abhängigkeit von der Stärke des Stroms und dem elektrischen Widerstand des Leiters. Im selben Jahr, 1840, wandte sich Joule der Erforschung der Wärme zu. Da ihm ein eigenes Labor zur Verfügung stand, konnte er das sogenannte »mechanische Wärmeäquivalent« (aus wie viel mechanischer Bewegung entsteht wie viel Wärme) ziemlich genau bestimmen. Seine Untersuchen schloss er 1843 ab und publizierte sie nur ein Jahr nach Mayers wegweisendem Aufsatz.
    Aber in der Wissenschaft gilt: Wer einen Gedanken zuerst formuliert, der hat auch Anspruch darauf, als dessen Entdecker zu gelten. Es kam folglich zu einem Streit der beiden Forscher vor der Königlichen Pariser Akademie der Wissenschaften, die damals etwa die Rolle des heutigen Europäischen Patentamtes spielte. Mayer wurde vorgeworfen, was zuweilen noch heute als Argument hergenommen wird: Er sei nicht vom Fach. Außerdem habe er nicht genau genug gemessen und sei zu
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