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Aber dann kam der Sommer

Aber dann kam der Sommer

Titel: Aber dann kam der Sommer
Autoren: Berte Bratt
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und uns geprügelt haben. Nora mit ihrem eigentümlich krausen Haar und den strahlenden, graugrünen Augen, Nora, mit dem sonnigen Humor und dem Sinn für Spaß und Streiche, Nora, mit dem großen, guten, warmen Herzen, ein Kamerad und eine Freundin im wahrsten Sinne des Wortes!
    Dann streifte mein Blick den Spiegel in der Ecke, und ich sah mich selbst: mittelgroß und mittelblond, mit sogenannten regelmäßigen Zügen, mit ebenso regelmäßig schlanker Figur und glatten, halblangen Haaren. Nora nennt mich eine „Schönheit“, aber ich für mein Teil finde, daß sie unvergleichlich viel besser aussieht. Sie ist nämlich mit ihrer kleinen Nase und den breiten Backenknochen auf eine aparte Weise hübsch, während ich allenfalls langweilig hübsch bin.
    Und wie ich da so saß, empfand ich nur ein einziges Gefühl: daß ich mein Zuhause und alle meine Angehörigen unbeschreiblich liebe – auch Tor, mit dem ich mich ständig kabbele, und ebenso Esther, die mir meine Strümpfe stiehlt (und ich dafür ihre Handschuhe), und Mutter, selbst wenn sie Adleraugen bekommt, sobald es sich um ein winziges Staubkörnchen am unrechten Fleck handelt.
    Zu ihnen allen paßte ich. Hier gehörte ich hin. Und nächste Woche sollte der Ibsen-Abend ohne mich stattfinden. Dann würde Esther wieder die Rebekka lesen, und im Winter, wenn die historischen Schauspiele an die Reihe kommen sollten, würde Nora die Margrete übernehmen, auf die ich mich so gefreut hatte…
    Und ich sollte währenddessen zwischen lauter wildfremden Menschen hocken und es immer nur „gut“ haben…
    „Was ist mit dir, Unni?“ fragte Mutter.
    „Aber Unni!“ sagte Nora.
    Und Esther: „Na, hör mal – du!“
    Ich bohrte meinen Kopf in ein Sofakissen, so tief hinein, daß ich gerade noch Tor sagen hörte:
    „Immer müssen die Mädel heulen!“

Tante Agnetes Heim
     
     
    Der Zug verminderte seine Fahrt und spie zischend Rauch in die Luft. Dann stand er still.
    Ich war müde und unfrisch nach der Nacht im Eisenbahnabteil. Der Zug war überfüllt. Vor zwei Stunden war ich aufgestanden, auf den Gang hinausgetreten und lehnte nun mit dem Rücken an der Tür zu dem Abteil mit den drei ungemachten Betten. Die Luft war dick und dumpfig, und der Apfel, den ich essen wollte, schmeckte nach Koffer.
    Ich schleppte meinen Koffer hinaus. Es war schwierig. Da kam mir ein grünbekleideter Arm zu Hilfe, und eine Stimme sagte:
    „Guten Tag, gnädiges Fräulein! Willkommen in unserer Stadt!“
    Ich drehte mich um – es war Tante Agnetes Kraftfahrer. Von der Begegnung an jenem bedeutungsvollen Sonntag, dem einundzwanzigsten August, erkannte ich ihn wieder.
    „Danke!“
    „Haben gnädiges Fräulein noch weiteres Gepäck aufgegeben?“
    Ja, gnädiges Fräulein hatte! Es verwirrte mich nicht wenig, plötzlich in der dritten Person angeredet zu werden.
    „Wenn gnädiges Fräulein mir den Gepäckschein geben wollen, kann ich den Koffer holen.“
    Er hatte offensichtlich Übung darin, Gäste in Empfang zu nehmen. In seiner maßgearbeiteten, dunkelgrünen Uniform führte er mich weltgewandt und überlegen – oh, und wie überlegen er war, trotz seines ehrerbietigen Tones – zuerst zum Wagen. Ich bekam ein seidenes Kissen in den Rücken, und während er zurückging, um mein Gepäck zu holen, hatte ich Zeit, mich umzuschauen. Dabei entdeckte ich ein Mikrophon, das zum Fahrersitz führte, und eine Kristallvase mit blaßrosa Nelken. Dann kam der korrekte Mann zurück und trug meinen bescheidenen braunen Kunststoffkoffer so beflissen, als sei er aus Schweinsleder und voller Hotelmarken von der Riviera.
    Uff! Es war bestimmt auf den ersten Blick zu erkennen, daß mein Kostüm keine Schneiderarbeit war, sondern von der Stange gekauft und geändert. So etwas merkt einer sofort, der gewöhnt ist, nur Qualitätsware um sich zu sehen. In den Augen des Chauffeurs sah ich wahrscheinlich geradezu ärmlich aus. Nicht einmal das schäbigste bißchen Pelz auf dem Kragen!
    Der Wagen bog zwischen zwei dicken Steinpfeilern in eine Allee ein und hielt in einer überdachten Auffahrt.
    Mein Herz klopfte bis zum Halse. Ich fühlte mich so schrecklich allein, klein und häßlich gegenüber diesem Haus mit der Auffahrt, dem Chauffeur in Uniform, dem großen Auto mit dem Seidenkissen und der Kristallvase.
    Doch da erschien plötzlich ein richtig lebendiges, kleines Wesen aus Fleisch und Blut und kam mir zu Hilfe. Es war ein junges Mädchen mit hellblonden Löckchen unter einem weißen Kopftuch, mit
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