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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt
Autoren: Dieter Noll
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zu Knack.
    Knack und Wolzow führten während des Geschichtsunterrichts endlose Debatten. Knack charakterisierte seine Geschichtsauffassung des öfteren als »rassisch-völkisch«. Wolzow stand neben seiner Bank und erklärte: »Geschichte, das ist Krieg. Von 1469 vor bis 1930 nach Christi Geburt hat es nur zweihundertvierundsechzig Jahre Frieden, aber dreitausendeinhundertfünfunddreißig Jahre Krieg gegeben …« – »Vergessen Sie nicht das rassische Moment«, ergänzte Knack, »die wertmäßigen Unterschiede der Völker, die rassischen Triebkräfte …«
    Holt saß stumm auf seinem Platz und hörte Knack mit der ewig gleichen, schnarrenden Stimme sagen: »Das Reich gründet sich bewußt auf uralte mythische Vorstellungen und Kräfte des Volkes …« Er döste vor sich hin, der Kopf schmerzte, und der Hals war wie zugeschnürt … Neben ihm saß Sepp Gomulka, Sohn eines Rechtsanwaltes, ein braunhaariger, kluger Junge, der sich meist zurückhielt und sich nur manchmal, im Übermut, an den Ausschreitungen der Klasse gegen die alten Lehrer beteiligte. Er war ein Einzelgänger, trieb sich mit seinem Kleinkalibergewehr in den Wäldern umher und schoß Eichelhäher, statt sich den Schulaufgabenzu widmen. Während Knack redete und redete, schnitzte Gomulka mit einem Messer an seiner Bank und sammelte die Späne in einer Tüte aus Löschpapier … Auf dem Platz vor Holt saß der zarte, ewig kränkelnde Peter Wiese, der diesen Sommer zu seiner Kräftigung täglich zwei Stunden in der Badeanstalt zu verbringen und Sport zu treiben hatte, eine Maßnahme, unter der er litt. Holt schrieb auf einen Zettel: »Gib mir deine Lateinübersetzung!« Er wollte für den Weigerungsfall eine Drohung hinzusetzen, unterließ es aber und schob den Zettel zu Wiese. Wiese las und nickte.
    Aber in der großen Pause fand Holt keine Gelegenheit, die Übersetzung abzuschreiben, obwohl eine fehlende Hausaufgabe bei Studienrat Maaß schlimme Folgen haben konnte. Die Schüler begaben sich ins Biologiezimmer. Der bevorstehende Unterricht bei Doktor Zickel, genannt Meck-meck, riß sie aus ihrer Lethargie. Christian Vetter, blond, mit rundem Kindergesicht und blanken Schweinsäuglein, wegen seiner Körperfülle seit eh und je gehänselt und verspottet, probierte ein paar quiekende und grunzende Geräusche aus. Wolzow und Holt standen mit gleichgültigen Gesichtern beieinander. Gomulka wetzte sein Messer an der Gasleitung des Experimentiertisches, und Kirsch, Tischlersohn, von Knack als Vertreter des »bodenständigen Handwerks« gefeiert, futterte Brot auf Brot in sich hinein, wodurch er zu wachsen hoffte, denn er war nur einssechzig groß. Nadler, ein stämmiger, blonder Junge, wurde von seinen Freunden Schönfeldt, Grubert und anderen umlagert, die in der Nachrichten-HJ seine Untergebenen waren. Hingegen war Wolzows Laufbahn als HJ-Führer nach verheißungsvollem Start schon vor zwei Jahren geendet, nachdem er seinen Stammführer mit den Worten stehengelassen hatte: »Von so einem militärischen Rindvieh nehm ich doch keine Befehle entgegen!«
    Zemtzki piepste plötzlich: »Gilbert, das mußt du zugeben: den Knack hat der Werner prima veralbert!« – »Scher dich vor die Tür und paß auf!« befahl Wolzow. Dann sagte er zu Holt: »Glaub bloß nicht, es war was Besonderes.« Er blickte sich suchend um. Dann trat er zur Tafel. Dort stand ein Skelett, das Doktor Zickel im Unterricht brauchte, neben dem großen Aquarium. Wolzow, inBreeches und Stiefeln, den Brustkorb von einem verwaschenen HJ-Hemd umspannt, holte ein Stück Holzkohle aus der Hosentasche und begann, den Totenschädel zu beschmutzen. Peter Wiese erblaßte. Er fürchtete Wolzow, den er »miles gloriosus«, ruhmredigen Kriegsmann, nannte; Holt freilich hatte gloriosus kurzerhand mit »prahlerisch« übersetzt.
    Jetzt malte sich Angst in Wieses Gesicht, denn er, der Primus, wurde als erster nach dem Täter befragt, und da er niemals einen Lehrer belog, beim Verrat aber erbarmungslos Prügel bezog, geriet er jedesmal in Gewissensnot, aus der ihn andere mit der Lüge erlösen mußten, Wiese könne nichts wissen, er sei nicht im Zimmer gewesen …
    Wolzow sah Holt ins Gesicht und fragte: »Wie findest du das?« Holt ging wortlos zur Tafel, nahm den Schädel vom Skelett und warf ihn in das große Aquarium. Wasser und Schlingpflanzen schwappten auf den Boden.
    Die Klasse tobte. Dann wurde es still. Man blickte gespannt auf Wolzow. Wolzow verlor die Beherrschung. »Warte!« schrie er, leicht nach
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